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Robert, Carl: Bild und Lied. Archäologische Beiträge zur Geschichte der griechischen Heldensage. Berlin, 1881.

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ihrer Füsse zeigt -- das Gemach verlassen, aber noch einmal
wendet sie den Kopf zurück und streckt mit einer Gebärde des
Abscheus und Entsetzens die Arme gegen Paris aus. Es sind
also sehr verschiedene Empfindungen, welche das Eintreten des
Paris bei den im Gemache Anwesenden erregt: helle unverhohlene
Freude bei der Hausfrau, Zweifel und Bedenken bei dem Haus-
herrn, Neugierde bei dem einen, Entsetzen bei dem zweiten
Mädchen. Urlichs sieht den Moment dargestellt, wo Paris von
Aineias geleitet in den Palast des Menelaos eintritt, eine Scene,
für welche die moderne Archäologie eine unbegreifliche Vorliebe
hat, während sie der antiken Kunst fast völlig fremd geblieben
ist und das aus guten Gründen. Die Frau also ist nach Urlichs
Helena, der Mann Menelaos, die Dienerinnen Elektra und Pan-
thalis, oder auch die Schwester der Helena, Timandra, und eine
Dienerin Euopis (nach der Hieronvase). Aber ist es denkbar,
dass jemals ein antiker Künstler, und nun gar ein Künstler
des fünften Jahrhunderts, diesen Vorgang so dargestellt habe?
Wie kann Helena, mag auch die Liebesleidenschaft beim Anblick
des Paris noch so jäh und mächtig in ihr auflodern, so aller
Sitte und Scham vergessen, dass sie aufspringt und dem Fremd-
ling die Hand reicht -- dem Fremdling, dessen Namen und
Herkunft sie noch nicht einmal kennt, -- denn man weiss
doch, dass eine Handreichung bei den Griechen ganz etwas
anderes ist, als bei uns, dass sie nicht etwa eine conven-
tionelle Form der Bewillkommung, sondern eine Liebkosung ist,
die sich nur nahe und lange Befreundete erweisen. Und nun
vergleiche man die Haltung der Helena auf anderen Darstellungen
des fünften Jahrhunderts, z. B. auf den beiden Hieronvasen mit
dem Raub der Helena, man beachte, wie sie dort scheu und fast
züchtig dem Verführer folgt, und man wird zugeben müssen,
dass ihr Gebaren auf dieser Vase dem antiken Beschauer nicht
naiv, sondern unanständig erschienen wäre. Nicht minder an-
stössig ist aber auch das Benehmen des vermeintlichen Menelaos.
Wie sonderbar muss es jeden Griechen berühren, dass er den
Fremdling nicht bewillkommt23); welche Verletzung der Pflicht

23) Wie Urlichs aus der Haltung des angeblichen Menelaos schliessen

ihrer Füſse zeigt — das Gemach verlassen, aber noch einmal
wendet sie den Kopf zurück und streckt mit einer Gebärde des
Abscheus und Entsetzens die Arme gegen Paris aus. Es sind
also sehr verschiedene Empfindungen, welche das Eintreten des
Paris bei den im Gemache Anwesenden erregt: helle unverhohlene
Freude bei der Hausfrau, Zweifel und Bedenken bei dem Haus-
herrn, Neugierde bei dem einen, Entsetzen bei dem zweiten
Mädchen. Urlichs sieht den Moment dargestellt, wo Paris von
Aineias geleitet in den Palast des Menelaos eintritt, eine Scene,
für welche die moderne Archäologie eine unbegreifliche Vorliebe
hat, während sie der antiken Kunst fast völlig fremd geblieben
ist und das aus guten Gründen. Die Frau also ist nach Urlichs
Helena, der Mann Menelaos, die Dienerinnen Elektra und Pan-
thalis, oder auch die Schwester der Helena, Timandra, und eine
Dienerin Euopis (nach der Hieronvase). Aber ist es denkbar,
daſs jemals ein antiker Künstler, und nun gar ein Künstler
des fünften Jahrhunderts, diesen Vorgang so dargestellt habe?
Wie kann Helena, mag auch die Liebesleidenschaft beim Anblick
des Paris noch so jäh und mächtig in ihr auflodern, so aller
Sitte und Scham vergessen, daſs sie aufspringt und dem Fremd-
ling die Hand reicht — dem Fremdling, dessen Namen und
Herkunft sie noch nicht einmal kennt, — denn man weiſs
doch, daſs eine Handreichung bei den Griechen ganz etwas
anderes ist, als bei uns, daſs sie nicht etwa eine conven-
tionelle Form der Bewillkommung, sondern eine Liebkosung ist,
die sich nur nahe und lange Befreundete erweisen. Und nun
vergleiche man die Haltung der Helena auf anderen Darstellungen
des fünften Jahrhunderts, z. B. auf den beiden Hieronvasen mit
dem Raub der Helena, man beachte, wie sie dort scheu und fast
züchtig dem Verführer folgt, und man wird zugeben müssen,
daſs ihr Gebaren auf dieser Vase dem antiken Beschauer nicht
naiv, sondern unanständig erschienen wäre. Nicht minder an-
stöſsig ist aber auch das Benehmen des vermeintlichen Menelaos.
Wie sonderbar muſs es jeden Griechen berühren, daſs er den
Fremdling nicht bewillkommt23); welche Verletzung der Pflicht

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[92/0106] ihrer Füſse zeigt — das Gemach verlassen, aber noch einmal wendet sie den Kopf zurück und streckt mit einer Gebärde des Abscheus und Entsetzens die Arme gegen Paris aus. Es sind also sehr verschiedene Empfindungen, welche das Eintreten des Paris bei den im Gemache Anwesenden erregt: helle unverhohlene Freude bei der Hausfrau, Zweifel und Bedenken bei dem Haus- herrn, Neugierde bei dem einen, Entsetzen bei dem zweiten Mädchen. Urlichs sieht den Moment dargestellt, wo Paris von Aineias geleitet in den Palast des Menelaos eintritt, eine Scene, für welche die moderne Archäologie eine unbegreifliche Vorliebe hat, während sie der antiken Kunst fast völlig fremd geblieben ist und das aus guten Gründen. Die Frau also ist nach Urlichs Helena, der Mann Menelaos, die Dienerinnen Elektra und Pan- thalis, oder auch die Schwester der Helena, Timandra, und eine Dienerin Euopis (nach der Hieronvase). Aber ist es denkbar, daſs jemals ein antiker Künstler, und nun gar ein Künstler des fünften Jahrhunderts, diesen Vorgang so dargestellt habe? Wie kann Helena, mag auch die Liebesleidenschaft beim Anblick des Paris noch so jäh und mächtig in ihr auflodern, so aller Sitte und Scham vergessen, daſs sie aufspringt und dem Fremd- ling die Hand reicht — dem Fremdling, dessen Namen und Herkunft sie noch nicht einmal kennt, — denn man weiſs doch, daſs eine Handreichung bei den Griechen ganz etwas anderes ist, als bei uns, daſs sie nicht etwa eine conven- tionelle Form der Bewillkommung, sondern eine Liebkosung ist, die sich nur nahe und lange Befreundete erweisen. Und nun vergleiche man die Haltung der Helena auf anderen Darstellungen des fünften Jahrhunderts, z. B. auf den beiden Hieronvasen mit dem Raub der Helena, man beachte, wie sie dort scheu und fast züchtig dem Verführer folgt, und man wird zugeben müssen, daſs ihr Gebaren auf dieser Vase dem antiken Beschauer nicht naiv, sondern unanständig erschienen wäre. Nicht minder an- stöſsig ist aber auch das Benehmen des vermeintlichen Menelaos. Wie sonderbar muſs es jeden Griechen berühren, daſs er den Fremdling nicht bewillkommt 23); welche Verletzung der Pflicht 23) Wie Urlichs aus der Haltung des angeblichen Menelaos schlieſsen

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Zitationshilfe: Robert, Carl: Bild und Lied. Archäologische Beiträge zur Geschichte der griechischen Heldensage. Berlin, 1881, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/robert_griechische_1881/106>, abgerufen am 24.11.2024.