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Robert, Carl: Bild und Lied. Archäologische Beiträge zur Geschichte der griechischen Heldensage. Berlin, 1881.

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der zehn Jahre lang belagerten Stadt zu Hilfe kommt, aber ein
Einfall, wie er nur auf dem Hintergrunde eines vollständig
poetisch durchgebildeten Sagenkreises entstehen konnte, ein
rechter Einfall eines Epigonen. Und recht epigonenhaft ist
es auch, dass die Dichtung nicht mehr im Stande ist, neue
Motive zu erfinden, sondern nur die alten Motive in gesteigerter
Form bei dieser ihrer jüngsten Schöpfung wiederholt, wobei
allerdings die märchenhaften Übertreibungen dem Fürsten aus
dem Wunderlande sehr gut zu Gesichte stehen. Wenn so Hektor
und Sarpedon, ja Achilleus selbst die Farben herleihen müssen,
ist es freilich kein Wunder, dass das schliesslich zustande ge-
kommene Bild eines der prächtigsten und blendendsten des
ganzen troischen Sagenkreises ist. In der That hat das Gedicht
von Memnon entschiedenes Glück gemacht55). Aber dass man
darüber das Original, den Sarpedon, vergessen oder vernach-
lässigt hätte, soweit ist es doch nie gekommen. Höchstens als
gleichberechtigt stehen beide neben einander, wie auch nach dem

55) Brunn a. a. O. S. 201 denkt sich "die Sage von dem Ende und der
Verklärung des Memnon" zuerst in der Volkspoesie entwickelt; doch habe sie
"ihre abgerundete harmonische dichterische Ausgestaltung erst in der Äthiopis
erhalten" und sei "von hier aus in den Kreis künstlerischer Darstellungen
aufgenommen worden". Wenn das Lied von Memnon ursprünglich unabhängig
von dem Amazonenkampf und der Iliupersis bestanden hat, was ja an sich mög-
lich, vielleicht sogar wahrscheinlich ist, so kann dies nur in der Form eines
Epyllions von der Art des älteren Nostos der Odyssee und der Telemachie
der Fall gewesen sein. Allein ich kann mir nicht denken, dass der Inhalt
dieses Epyllions sich von dem der späteren Äthiopis wesentlich unterschieden
oder weniger die Spuren der Nachahmung getragen haben könne, als diese.
Das oben über die späte Entstehung Bemerkte würde dann einfach Wort für
Wort auch von diesem Epyllion gelten. Die "abgerundete harmonische
dichterische Ausgestaltung", die ein Arktinos, oder wer sonst der Verfasser
der Äthiopis war, mit der Sage vorgenommen hätte, könnte sich dann auch
nicht wesentlich von der Operation der letzten Odysseebearbeiter unter-
schieden haben, d. h. es wäre ein Zusammenarbeiten verschiedener kleiner
Epen gewesen, bei dem am Inhalt so gut wie nichts, an der Form ver-
hältnismässig wenig geändert worden wäre. Warum aber diese "Aus-
gestaltung in der Äthiopis" erst vorausgegangen sein musste, ehe die Sage
in den Kreis künstlerischer Darstellungen aufgenommen werden konnte, ist
mir völlig unverständlich.

der zehn Jahre lang belagerten Stadt zu Hilfe kommt, aber ein
Einfall, wie er nur auf dem Hintergrunde eines vollständig
poetisch durchgebildeten Sagenkreises entstehen konnte, ein
rechter Einfall eines Epigonen. Und recht epigonenhaft ist
es auch, daſs die Dichtung nicht mehr im Stande ist, neue
Motive zu erfinden, sondern nur die alten Motive in gesteigerter
Form bei dieser ihrer jüngsten Schöpfung wiederholt, wobei
allerdings die märchenhaften Übertreibungen dem Fürsten aus
dem Wunderlande sehr gut zu Gesichte stehen. Wenn so Hektor
und Sarpedon, ja Achilleus selbst die Farben herleihen müssen,
ist es freilich kein Wunder, daſs das schlieſslich zustande ge-
kommene Bild eines der prächtigsten und blendendsten des
ganzen troischen Sagenkreises ist. In der That hat das Gedicht
von Memnon entschiedenes Glück gemacht55). Aber daſs man
darüber das Original, den Sarpedon, vergessen oder vernach-
lässigt hätte, soweit ist es doch nie gekommen. Höchstens als
gleichberechtigt stehen beide neben einander, wie auch nach dem

55) Brunn a. a. O. S. 201 denkt sich „die Sage von dem Ende und der
Verklärung des Memnon“ zuerst in der Volkspoesie entwickelt; doch habe sie
„ihre abgerundete harmonische dichterische Ausgestaltung erst in der Äthiopis
erhalten“ und sei „von hier aus in den Kreis künstlerischer Darstellungen
aufgenommen worden“. Wenn das Lied von Memnon ursprünglich unabhängig
von dem Amazonenkampf und der Iliupersis bestanden hat, was ja an sich mög-
lich, vielleicht sogar wahrscheinlich ist, so kann dies nur in der Form eines
Epyllions von der Art des älteren Nostos der Odyssee und der Telemachie
der Fall gewesen sein. Allein ich kann mir nicht denken, daſs der Inhalt
dieses Epyllions sich von dem der späteren Äthiopis wesentlich unterschieden
oder weniger die Spuren der Nachahmung getragen haben könne, als diese.
Das oben über die späte Entstehung Bemerkte würde dann einfach Wort für
Wort auch von diesem Epyllion gelten. Die „abgerundete harmonische
dichterische Ausgestaltung“, die ein Arktinos, oder wer sonst der Verfasser
der Äthiopis war, mit der Sage vorgenommen hätte, könnte sich dann auch
nicht wesentlich von der Operation der letzten Odysseebearbeiter unter-
schieden haben, d. h. es wäre ein Zusammenarbeiten verschiedener kleiner
Epen gewesen, bei dem am Inhalt so gut wie nichts, an der Form ver-
hältnismäſsig wenig geändert worden wäre. Warum aber diese „Aus-
gestaltung in der Äthiopis“ erst vorausgegangen sein muſste, ehe die Sage
in den Kreis künstlerischer Darstellungen aufgenommen werden konnte, ist
mir völlig unverständlich.
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[120/0134] der zehn Jahre lang belagerten Stadt zu Hilfe kommt, aber ein Einfall, wie er nur auf dem Hintergrunde eines vollständig poetisch durchgebildeten Sagenkreises entstehen konnte, ein rechter Einfall eines Epigonen. Und recht epigonenhaft ist es auch, daſs die Dichtung nicht mehr im Stande ist, neue Motive zu erfinden, sondern nur die alten Motive in gesteigerter Form bei dieser ihrer jüngsten Schöpfung wiederholt, wobei allerdings die märchenhaften Übertreibungen dem Fürsten aus dem Wunderlande sehr gut zu Gesichte stehen. Wenn so Hektor und Sarpedon, ja Achilleus selbst die Farben herleihen müssen, ist es freilich kein Wunder, daſs das schlieſslich zustande ge- kommene Bild eines der prächtigsten und blendendsten des ganzen troischen Sagenkreises ist. In der That hat das Gedicht von Memnon entschiedenes Glück gemacht 55). Aber daſs man darüber das Original, den Sarpedon, vergessen oder vernach- lässigt hätte, soweit ist es doch nie gekommen. Höchstens als gleichberechtigt stehen beide neben einander, wie auch nach dem 55) Brunn a. a. O. S. 201 denkt sich „die Sage von dem Ende und der Verklärung des Memnon“ zuerst in der Volkspoesie entwickelt; doch habe sie „ihre abgerundete harmonische dichterische Ausgestaltung erst in der Äthiopis erhalten“ und sei „von hier aus in den Kreis künstlerischer Darstellungen aufgenommen worden“. Wenn das Lied von Memnon ursprünglich unabhängig von dem Amazonenkampf und der Iliupersis bestanden hat, was ja an sich mög- lich, vielleicht sogar wahrscheinlich ist, so kann dies nur in der Form eines Epyllions von der Art des älteren Nostos der Odyssee und der Telemachie der Fall gewesen sein. Allein ich kann mir nicht denken, daſs der Inhalt dieses Epyllions sich von dem der späteren Äthiopis wesentlich unterschieden oder weniger die Spuren der Nachahmung getragen haben könne, als diese. Das oben über die späte Entstehung Bemerkte würde dann einfach Wort für Wort auch von diesem Epyllion gelten. Die „abgerundete harmonische dichterische Ausgestaltung“, die ein Arktinos, oder wer sonst der Verfasser der Äthiopis war, mit der Sage vorgenommen hätte, könnte sich dann auch nicht wesentlich von der Operation der letzten Odysseebearbeiter unter- schieden haben, d. h. es wäre ein Zusammenarbeiten verschiedener kleiner Epen gewesen, bei dem am Inhalt so gut wie nichts, an der Form ver- hältnismäſsig wenig geändert worden wäre. Warum aber diese „Aus- gestaltung in der Äthiopis“ erst vorausgegangen sein muſste, ehe die Sage in den Kreis künstlerischer Darstellungen aufgenommen werden konnte, ist mir völlig unverständlich.

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Zitationshilfe: Robert, Carl: Bild und Lied. Archäologische Beiträge zur Geschichte der griechischen Heldensage. Berlin, 1881, S. 120. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/robert_griechische_1881/134>, abgerufen am 24.11.2024.