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Robert, Carl: Bild und Lied. Archäologische Beiträge zur Geschichte der griechischen Heldensage. Berlin, 1881.

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mildert. Das hat mir Wilamowitz an einem einzigen, aber durch-
schlagenden Beispiel nachgewiesen. In der Aithiopis -- ich
gebrauche den Namen von dem ganzen Epos, ob nach Vorgang
der Alten weiss ich freilich nicht -- in der Aithiopis also tötet
Neoptolemos den Priamos am Altar des Zeus Herkeios, in der
kleinen Ilias reisst er ihn vom Altar weg und tötet ihn an der
Schwelle; der Frevel gegen die Gottheit wird dadurch zwar nicht
aufgehoben, aber doch in etwas gemildert.

Dass die Aithiopis ein Werk des Arktinos von Milet sei,
scheint für die Alten eine ebenso unumstössliche Thatsache gewesen
zu sein, wie dass Homer der Verfasser der Ilias sei, und wir
Neueren haben uns diesen Sprachgebrauch in demselben Sinne und
mit derselben Reserve, wie bei Ilias und Odyssee, angeeignet. Wenn
wir aber in gleicher Weise Lesches als Verfasser der kleinen Ilias
nennen, so thun wir dies nicht in Übereinstimmung mit der An-
schauung des Altertums, wenigstens nicht des gesamten Altertums.
An der einzigen Stelle, wo Aristoteles dieses Gedichtes gedenkt, sagt
er: o ten mikran Iliada poiesas, und diese Ausdrucksweise beweist
wenigstens so viel, dass er entweder eine Tradition über den
Verfasser dieses Gedichtes überhaupt nicht kannte oder derselben
keinen Glauben schenkte. Erst im späteren Altertum finden wir
die Meinung allgemein verbreitet, dass Lesches, der Sohn des Aischy-
linos aus der Stadt Pyrrha auf Lesbos, der Verfasser der kleinen
Ilias sei. Auf der tabula iliaca sowohl wie in den Excerpten
des Proklos wird Lesches als Verfasser dieses Gedichtes genannt;
seine Autorschaft war also in der römischen Kaiserzeit ein Dogma
der Litteraturgeschichte geworden, und so kann es nicht ver-
wundern, wenn in den Pindarscholien (Nem. VI 85) Leskhou mikra
Ilias, und in den Aristophanesscholien (Lysistr. 155) Leskhes
o Purraios en te mikra Iliadi citiert wird, und wenn Tzetzes den
Namen Lesches auch an solchen Stellen einfügt, wo seine Quelle
nur ton ten persida suntetakhota oder ton ten mikran Iliada gra-
psanta kennt 1). Endlich spricht Pausanias im X. Buch mit Vorliebe

1) Tzetzes zu Lykophr. 344 aus schol. Eurip. Hekabe 910, zu Lykophron
1263 aus schol. Eurip. Troiades 10, in den alten Scholien zu Lykophron heisst
zu V. 780 der Verfasser o ten mikran Iliada grapsas.
Philolog. Untersuchungen V. 15

mildert. Das hat mir Wilamowitz an einem einzigen, aber durch-
schlagenden Beispiel nachgewiesen. In der Aithiopis — ich
gebrauche den Namen von dem ganzen Epos, ob nach Vorgang
der Alten weiſs ich freilich nicht — in der Aithiopis also tötet
Neoptolemos den Priamos am Altar des Zeus Herkeios, in der
kleinen Ilias reiſst er ihn vom Altar weg und tötet ihn an der
Schwelle; der Frevel gegen die Gottheit wird dadurch zwar nicht
aufgehoben, aber doch in etwas gemildert.

Daſs die Aithiopis ein Werk des Arktinos von Milet sei,
scheint für die Alten eine ebenso unumstöſsliche Thatsache gewesen
zu sein, wie daſs Homer der Verfasser der Ilias sei, und wir
Neueren haben uns diesen Sprachgebrauch in demselben Sinne und
mit derselben Reserve, wie bei Ilias und Odyssee, angeeignet. Wenn
wir aber in gleicher Weise Lesches als Verfasser der kleinen Ilias
nennen, so thun wir dies nicht in Übereinstimmung mit der An-
schauung des Altertums, wenigstens nicht des gesamten Altertums.
An der einzigen Stelle, wo Aristoteles dieses Gedichtes gedenkt, sagt
er: ὁ τὴν μικρὰν Ἰλιάδα ποιήσας, und diese Ausdrucksweise beweist
wenigstens so viel, daſs er entweder eine Tradition über den
Verfasser dieses Gedichtes überhaupt nicht kannte oder derselben
keinen Glauben schenkte. Erst im späteren Altertum finden wir
die Meinung allgemein verbreitet, daſs Lesches, der Sohn des Aischy-
linos aus der Stadt Pyrrha auf Lesbos, der Verfasser der kleinen
Ilias sei. Auf der tabula iliaca sowohl wie in den Excerpten
des Proklos wird Lesches als Verfasser dieses Gedichtes genannt;
seine Autorschaft war also in der römischen Kaiserzeit ein Dogma
der Litteraturgeschichte geworden, und so kann es nicht ver-
wundern, wenn in den Pindarscholien (Nem. VI 85) Λέσχου μικρὰ
Ἰλιάς, und in den Aristophanesscholien (Lysistr. 155) Λέσχης
ὁ Πυρραῖος ἐν τῇ μικρᾷ Ἰλιάδι citiert wird, und wenn Tzetzes den
Namen Lesches auch an solchen Stellen einfügt, wo seine Quelle
nur τὸν τὴν περσίδα συντεταχότα oder τὸν τὴν μικρὰν Ἰλιάδα γρά-
ψαντα kennt 1). Endlich spricht Pausanias im X. Buch mit Vorliebe

1) Tzetzes zu Lykophr. 344 aus schol. Eurip. Hekabe 910, zu Lykophron
1263 aus schol. Eurip. Troiades 10, in den alten Scholien zu Lykophron heiſst
zu V. 780 der Verfasser ὁ τὴν μικρὰν Ἰλιάδα γράψας.
Philolog. Untersuchungen V. 15
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[225/0239] mildert. Das hat mir Wilamowitz an einem einzigen, aber durch- schlagenden Beispiel nachgewiesen. In der Aithiopis — ich gebrauche den Namen von dem ganzen Epos, ob nach Vorgang der Alten weiſs ich freilich nicht — in der Aithiopis also tötet Neoptolemos den Priamos am Altar des Zeus Herkeios, in der kleinen Ilias reiſst er ihn vom Altar weg und tötet ihn an der Schwelle; der Frevel gegen die Gottheit wird dadurch zwar nicht aufgehoben, aber doch in etwas gemildert. Daſs die Aithiopis ein Werk des Arktinos von Milet sei, scheint für die Alten eine ebenso unumstöſsliche Thatsache gewesen zu sein, wie daſs Homer der Verfasser der Ilias sei, und wir Neueren haben uns diesen Sprachgebrauch in demselben Sinne und mit derselben Reserve, wie bei Ilias und Odyssee, angeeignet. Wenn wir aber in gleicher Weise Lesches als Verfasser der kleinen Ilias nennen, so thun wir dies nicht in Übereinstimmung mit der An- schauung des Altertums, wenigstens nicht des gesamten Altertums. An der einzigen Stelle, wo Aristoteles dieses Gedichtes gedenkt, sagt er: ὁ τὴν μικρὰν Ἰλιάδα ποιήσας, und diese Ausdrucksweise beweist wenigstens so viel, daſs er entweder eine Tradition über den Verfasser dieses Gedichtes überhaupt nicht kannte oder derselben keinen Glauben schenkte. Erst im späteren Altertum finden wir die Meinung allgemein verbreitet, daſs Lesches, der Sohn des Aischy- linos aus der Stadt Pyrrha auf Lesbos, der Verfasser der kleinen Ilias sei. Auf der tabula iliaca sowohl wie in den Excerpten des Proklos wird Lesches als Verfasser dieses Gedichtes genannt; seine Autorschaft war also in der römischen Kaiserzeit ein Dogma der Litteraturgeschichte geworden, und so kann es nicht ver- wundern, wenn in den Pindarscholien (Nem. VI 85) Λέσχου μικρὰ Ἰλιάς, und in den Aristophanesscholien (Lysistr. 155) Λέσχης ὁ Πυρραῖος ἐν τῇ μικρᾷ Ἰλιάδι citiert wird, und wenn Tzetzes den Namen Lesches auch an solchen Stellen einfügt, wo seine Quelle nur τὸν τὴν περσίδα συντεταχότα oder τὸν τὴν μικρὰν Ἰλιάδα γρά- ψαντα kennt 1). Endlich spricht Pausanias im X. Buch mit Vorliebe 1) Tzetzes zu Lykophr. 344 aus schol. Eurip. Hekabe 910, zu Lykophron 1263 aus schol. Eurip. Troiades 10, in den alten Scholien zu Lykophron heiſst zu V. 780 der Verfasser ὁ τὴν μικρὰν Ἰλιάδα γράψας. Philolog. Untersuchungen V. 15

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Zitationshilfe: Robert, Carl: Bild und Lied. Archäologische Beiträge zur Geschichte der griechischen Heldensage. Berlin, 1881, S. 225. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/robert_griechische_1881/239>, abgerufen am 21.11.2024.