römischem Boden uns darbietet. Altes und Junges liegt dicht neben einander, poetische und bildliche Tradition wirken unbe- wusst, aber noch immer mächtig nach. Allein der lebendige Zu- sammenhang mit dem Volksbewusstsein, der sich seit dem fünf- ten Jahrhundert immer mehr gelockert hat, ist jetzt zerrissen. Das Beste, was Bild und Lied aus der Sage gemacht haben und machen konnten, gehört der Vergangenheit an, die Gegenwart steht ihm receptiv und reflektierend gegenüber; wohl ihr, wenn sie für das wahrhaft Grosse und Schöne, was sie überkommen, ein un- befangenes Verständnis, ein offenes Auge und Herz bewahrt hat. Wie ihr diese Schätze überkommen sind, welche wunderbare Ent- wickelung dahinter liegt, welche Schichten von Sagenbildung, von poetischer und künstlerischer Entwickelung hier übereinanderliegen, wie jede Sage, jedes poetische Motiv und jeder künstlerische Typus ein eigenes Leben hat, einen eigenen Kampf ums Dasein kämpft, das ahnt die römische Welt so wenig, wie es die Renais- sance und die moderne Welt ahnt, die diese Schätze wie etwas Selbstverständliches in Empfang nehmen.
4*
römischem Boden uns darbietet. Altes und Junges liegt dicht neben einander, poetische und bildliche Tradition wirken unbe- wuſst, aber noch immer mächtig nach. Allein der lebendige Zu- sammenhang mit dem Volksbewuſstsein, der sich seit dem fünf- ten Jahrhundert immer mehr gelockert hat, ist jetzt zerrissen. Das Beste, was Bild und Lied aus der Sage gemacht haben und machen konnten, gehört der Vergangenheit an, die Gegenwart steht ihm receptiv und reflektierend gegenüber; wohl ihr, wenn sie für das wahrhaft Groſse und Schöne, was sie überkommen, ein un- befangenes Verständnis, ein offenes Auge und Herz bewahrt hat. Wie ihr diese Schätze überkommen sind, welche wunderbare Ent- wickelung dahinter liegt, welche Schichten von Sagenbildung, von poetischer und künstlerischer Entwickelung hier übereinanderliegen, wie jede Sage, jedes poetische Motiv und jeder künstlerische Typus ein eigenes Leben hat, einen eigenen Kampf ums Dasein kämpft, das ahnt die römische Welt so wenig, wie es die Renais- sance und die moderne Welt ahnt, die diese Schätze wie etwas Selbstverständliches in Empfang nehmen.
4*
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0065"n="51"/>
römischem Boden uns darbietet. Altes und Junges liegt dicht<lb/>
neben einander, poetische und bildliche Tradition wirken unbe-<lb/>
wuſst, aber noch immer mächtig nach. Allein der lebendige Zu-<lb/>
sammenhang mit dem Volksbewuſstsein, der sich seit dem fünf-<lb/>
ten Jahrhundert immer mehr gelockert hat, ist jetzt zerrissen. Das<lb/>
Beste, was Bild und Lied aus der Sage gemacht haben und machen<lb/>
konnten, gehört der Vergangenheit an, die Gegenwart steht<lb/>
ihm receptiv und reflektierend gegenüber; wohl ihr, wenn sie für<lb/>
das wahrhaft Groſse und Schöne, was sie überkommen, ein un-<lb/>
befangenes Verständnis, ein offenes Auge und Herz bewahrt hat.<lb/>
Wie ihr diese Schätze überkommen sind, welche wunderbare Ent-<lb/>
wickelung dahinter liegt, welche Schichten von Sagenbildung, von<lb/>
poetischer und künstlerischer Entwickelung hier übereinanderliegen,<lb/>
wie jede Sage, jedes poetische Motiv und jeder künstlerische<lb/>
Typus ein eigenes Leben hat, einen eigenen Kampf ums Dasein<lb/>
kämpft, das ahnt die römische Welt so wenig, wie es die Renais-<lb/>
sance und die moderne Welt ahnt, die diese Schätze wie etwas<lb/>
Selbstverständliches in Empfang nehmen.</p></div><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><fwplace="bottom"type="sig">4*</fw><lb/></div></body></text></TEI>
[51/0065]
römischem Boden uns darbietet. Altes und Junges liegt dicht
neben einander, poetische und bildliche Tradition wirken unbe-
wuſst, aber noch immer mächtig nach. Allein der lebendige Zu-
sammenhang mit dem Volksbewuſstsein, der sich seit dem fünf-
ten Jahrhundert immer mehr gelockert hat, ist jetzt zerrissen. Das
Beste, was Bild und Lied aus der Sage gemacht haben und machen
konnten, gehört der Vergangenheit an, die Gegenwart steht
ihm receptiv und reflektierend gegenüber; wohl ihr, wenn sie für
das wahrhaft Groſse und Schöne, was sie überkommen, ein un-
befangenes Verständnis, ein offenes Auge und Herz bewahrt hat.
Wie ihr diese Schätze überkommen sind, welche wunderbare Ent-
wickelung dahinter liegt, welche Schichten von Sagenbildung, von
poetischer und künstlerischer Entwickelung hier übereinanderliegen,
wie jede Sage, jedes poetische Motiv und jeder künstlerische
Typus ein eigenes Leben hat, einen eigenen Kampf ums Dasein
kämpft, das ahnt die römische Welt so wenig, wie es die Renais-
sance und die moderne Welt ahnt, die diese Schätze wie etwas
Selbstverständliches in Empfang nehmen.
4*
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Robert, Carl: Bild und Lied. Archäologische Beiträge zur Geschichte der griechischen Heldensage. Berlin, 1881, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/robert_griechische_1881/65>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.