Röll, [Victor] von (Hrsg.): Enzyklopädie des Eisenbahnwesens. 2. Aufl. Bd. 4. Berlin, Wien, 1913.mit den Verfassungs- und Wohlstandsverhältnissen, der Verläßlichkeit der Verwaltung, den politischen und sozialen Strömungen zusammenhängenden Ursachen wird die E. bewußt oder unbewußt auch davon beeinflußt, in welchem Umfange dem eigenen wirtschaftlichen Interesse der Eisenbahnen neben den bei ihrem Betrieb zu wahrenden öffentlichen Rücksichten ein Spielraum der Betätigung eingeräumt wird. Je nachdem der eine oder der andere dieser Gesichtspunkte als ausschlaggebend erkannt ist, wird der Staat sich entschließen, die Eisenbahnen als Teil der öffentlichen Verwaltung zu behandeln und ihre Ausführung sowie ihren Betrieb selbst zu übernehmen oder diese Tätigkeit der Privatbetriebsamkeit zu überlassen und die öffentlichen Interessen im Wege der Aufsicht und Überwachung sicherzustellen. Hieraus gehen zwei Grundformen der eisenbahnpolitischen Organisation des Eisenbahnwesens hervor: das Staatsbahnsystem und das Privatbahnsystem. Eine dritte Organisationsform bildet das gleichzeitige Bestehen von Staatsbahnen und Privatbahnen in demselben Staatsgebiete: das gemischte System im weiteren Sinne des Wortes. Weitere Arten ergaben sich im Falle der Trennung von Eigentum und Betrieb aus der Kombination der Rechtssubjekte Staat und Privatunternehmung als Staatsbetrieb von Privatbahnen und Pachtbetrieb von Staatsbahnen durch private Unternehmer. Die eisenbahnpolitischen Systeme kommen in der Praxis kaum je ganz rein vor. Sie beziehen sich übrigens meist nur auf die Hauptbahnen, nicht auf die Bahnen niederer Ordnung (Lokal- und Kleinbahnen). I. Privatbahnsystem. (Privatbahnen im Eigenbetriebe.) Das Privatbahnsystem ist das älteste, mit dem Entstehen der Eisenbahnen in England und Nordamerika ins Leben getretene und in diesen beiden Ländern, von den englischen Kolonien abgesehen, noch heute alleinherrschende. Es hat sich in der ersten Zeit der Eisenbahnen mit diesen von England her nach dem Festland verbreitet, wo es mit Ausnahme Belgiens und einiger deutschen Staaten festen Fuß faßte und unter dem Einflüsse der Theorien der Manchester-Schule lange Zeit in überwiegender Geltung stand. Die leitenden Grundsätze dieses Systems, das die Eisenbahnen vornehmlich als Frachtführer (common carriers) und den Eisenbahnbetrieb als reine Transportindustrie auffaßt, laufen im Wesen darauf hinaus, daß es nicht Sache des Staates sei, sich mit dem Besitze oder Betriebe der Eisenbahnen zu befassen, der besser den Privatunternehmern überlassen bleibe. Der Staat habe sich darauf zu beschränken, die Eisenbahngesellschaften zu überwachen und zur Erfüllung der ihnen obliegenden Verpflichtungen sei es im Wege der Staatsaufsicht, sei es durch die Gerichte, anzuhalten. Dabei wird von der Ansicht ausgegangen, daß Eisenbahnen von Privatunternehmern in wirtschaftlicher Hinsicht besser verwaltet werden als von öffentlichen Körperschaften. Es wird hingewiesen auf die schärfere Wahrnehmung des eisenbahnfiskalischen Interesses durch die an dem Ertrage materiell beteiligten Leiter der Gesellschaften und ihrer Organe, auf die größere Bewegungsfreiheit in kaufmännischer und geschäftlicher Hinsicht bei den Privatunternehmungen, auf die geringere Abhängigkeit der Gesellschaften gegenüber den politischen und sozialen Strömungen, die auf den materiellen Erfolg des Bahnbetriebs nachteilig einwirken. Hiezu kommt noch das Bedenken, das Machtgebiet des Staates allzusehr, u. zw. auf Gebiete auszudehnen, die bisher der freien individuellen Betätigung der privaten Unternehmungslust offen standen, sowie die Sorge, den Staat finanziell mit Milliardenschulden für Eisenbahnzwecke sowie mit dem Risiko eines großartigen Transportbetriebs und seiner wechselnden Konjunkturen zu belasten. Diese Bedenken verbinden sich namentlich in Ländern mit rein parlamentarischer Regierung mit der Befürchtung, die politischen Wandlungen mit ihrem häufigen Personenwechsel auf das Gebiet des Eisenbahnwesens übergreifen zu sehen. Diese Anschauungen führen zu der Schlußfolgerung, daß die Ausführung und der Betrieb der Eisenbahnen unter Aufsicht des Staates der Privattätigkeit zu überlassen sei, also zum reinen Privatbahnsystem. In den Anfangsstadien des Privatbahnsystems erhoffte man eine den öffentlichen Interessen zusagende Gestaltung des Eisenbahnwesens von der in den englischen Eisenbahnkonzessionen nach dem Vorbilde der Kanalakte festgesetzten Befahrungsfreiheit der Schienenwege, die sich bald als technisch undurchführbar erwies; sodann von der Zulassung der sog. Linienkonkurrenz, d. i. des Baues von Bahnen, die den Verkehr in der gleichen Richtung bedienen und daher miteinander in Wettbewerb treten sollen. Die Erfahrung hat gezeigt, daß auch diese Erwartung keine zutreffende war1. 1 Vgl. Wettbewerb.
mit den Verfassungs- und Wohlstandsverhältnissen, der Verläßlichkeit der Verwaltung, den politischen und sozialen Strömungen zusammenhängenden Ursachen wird die E. bewußt oder unbewußt auch davon beeinflußt, in welchem Umfange dem eigenen wirtschaftlichen Interesse der Eisenbahnen neben den bei ihrem Betrieb zu wahrenden öffentlichen Rücksichten ein Spielraum der Betätigung eingeräumt wird. Je nachdem der eine oder der andere dieser Gesichtspunkte als ausschlaggebend erkannt ist, wird der Staat sich entschließen, die Eisenbahnen als Teil der öffentlichen Verwaltung zu behandeln und ihre Ausführung sowie ihren Betrieb selbst zu übernehmen oder diese Tätigkeit der Privatbetriebsamkeit zu überlassen und die öffentlichen Interessen im Wege der Aufsicht und Überwachung sicherzustellen. Hieraus gehen zwei Grundformen der eisenbahnpolitischen Organisation des Eisenbahnwesens hervor: das Staatsbahnsystem und das Privatbahnsystem. Eine dritte Organisationsform bildet das gleichzeitige Bestehen von Staatsbahnen und Privatbahnen in demselben Staatsgebiete: das gemischte System im weiteren Sinne des Wortes. Weitere Arten ergaben sich im Falle der Trennung von Eigentum und Betrieb aus der Kombination der Rechtssubjekte Staat und Privatunternehmung als Staatsbetrieb von Privatbahnen und Pachtbetrieb von Staatsbahnen durch private Unternehmer. Die eisenbahnpolitischen Systeme kommen in der Praxis kaum je ganz rein vor. Sie beziehen sich übrigens meist nur auf die Hauptbahnen, nicht auf die Bahnen niederer Ordnung (Lokal- und Kleinbahnen). I. Privatbahnsystem. (Privatbahnen im Eigenbetriebe.) Das Privatbahnsystem ist das älteste, mit dem Entstehen der Eisenbahnen in England und Nordamerika ins Leben getretene und in diesen beiden Ländern, von den englischen Kolonien abgesehen, noch heute alleinherrschende. Es hat sich in der ersten Zeit der Eisenbahnen mit diesen von England her nach dem Festland verbreitet, wo es mit Ausnahme Belgiens und einiger deutschen Staaten festen Fuß faßte und unter dem Einflüsse der Theorien der Manchester-Schule lange Zeit in überwiegender Geltung stand. Die leitenden Grundsätze dieses Systems, das die Eisenbahnen vornehmlich als Frachtführer (common carriers) und den Eisenbahnbetrieb als reine Transportindustrie auffaßt, laufen im Wesen darauf hinaus, daß es nicht Sache des Staates sei, sich mit dem Besitze oder Betriebe der Eisenbahnen zu befassen, der besser den Privatunternehmern überlassen bleibe. Der Staat habe sich darauf zu beschränken, die Eisenbahngesellschaften zu überwachen und zur Erfüllung der ihnen obliegenden Verpflichtungen sei es im Wege der Staatsaufsicht, sei es durch die Gerichte, anzuhalten. Dabei wird von der Ansicht ausgegangen, daß Eisenbahnen von Privatunternehmern in wirtschaftlicher Hinsicht besser verwaltet werden als von öffentlichen Körperschaften. Es wird hingewiesen auf die schärfere Wahrnehmung des eisenbahnfiskalischen Interesses durch die an dem Ertrage materiell beteiligten Leiter der Gesellschaften und ihrer Organe, auf die größere Bewegungsfreiheit in kaufmännischer und geschäftlicher Hinsicht bei den Privatunternehmungen, auf die geringere Abhängigkeit der Gesellschaften gegenüber den politischen und sozialen Strömungen, die auf den materiellen Erfolg des Bahnbetriebs nachteilig einwirken. Hiezu kommt noch das Bedenken, das Machtgebiet des Staates allzusehr, u. zw. auf Gebiete auszudehnen, die bisher der freien individuellen Betätigung der privaten Unternehmungslust offen standen, sowie die Sorge, den Staat finanziell mit Milliardenschulden für Eisenbahnzwecke sowie mit dem Risiko eines großartigen Transportbetriebs und seiner wechselnden Konjunkturen zu belasten. Diese Bedenken verbinden sich namentlich in Ländern mit rein parlamentarischer Regierung mit der Befürchtung, die politischen Wandlungen mit ihrem häufigen Personenwechsel auf das Gebiet des Eisenbahnwesens übergreifen zu sehen. Diese Anschauungen führen zu der Schlußfolgerung, daß die Ausführung und der Betrieb der Eisenbahnen unter Aufsicht des Staates der Privattätigkeit zu überlassen sei, also zum reinen Privatbahnsystem. In den Anfangsstadien des Privatbahnsystems erhoffte man eine den öffentlichen Interessen zusagende Gestaltung des Eisenbahnwesens von der in den englischen Eisenbahnkonzessionen nach dem Vorbilde der Kanalakte festgesetzten Befahrungsfreiheit der Schienenwege, die sich bald als technisch undurchführbar erwies; sodann von der Zulassung der sog. Linienkonkurrenz, d. i. des Baues von Bahnen, die den Verkehr in der gleichen Richtung bedienen und daher miteinander in Wettbewerb treten sollen. Die Erfahrung hat gezeigt, daß auch diese Erwartung keine zutreffende war1. 1 Vgl. Wettbewerb.
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Der Staat habe sich darauf zu beschränken, die Eisenbahngesellschaften zu überwachen und zur Erfüllung der ihnen obliegenden Verpflichtungen sei es im Wege der Staatsaufsicht, sei es durch die Gerichte, anzuhalten. Dabei wird von der Ansicht ausgegangen, daß Eisenbahnen von Privatunternehmern in wirtschaftlicher Hinsicht besser verwaltet werden als von öffentlichen Körperschaften. Es wird hingewiesen auf die schärfere Wahrnehmung des eisenbahnfiskalischen Interesses durch die an dem Ertrage materiell beteiligten Leiter der Gesellschaften und ihrer Organe, auf die größere Bewegungsfreiheit in kaufmännischer und geschäftlicher Hinsicht bei den Privatunternehmungen, auf die geringere Abhängigkeit der Gesellschaften gegenüber den politischen und sozialen Strömungen, die auf den materiellen Erfolg des Bahnbetriebs nachteilig einwirken. Hiezu kommt noch das Bedenken, das Machtgebiet des Staates allzusehr, u. zw. auf Gebiete auszudehnen, die bisher der freien individuellen Betätigung der privaten Unternehmungslust offen standen, sowie die Sorge, den Staat finanziell mit Milliardenschulden für Eisenbahnzwecke sowie mit dem Risiko eines großartigen Transportbetriebs und seiner wechselnden Konjunkturen zu belasten. 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Die Erfahrung hat gezeigt, daß auch diese Erwartung keine zutreffende war<note place="foot" n="1">Vgl. Wettbewerb.</note>. </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [95/0104]
mit den Verfassungs- und Wohlstandsverhältnissen, der Verläßlichkeit der Verwaltung, den politischen und sozialen Strömungen zusammenhängenden Ursachen wird die E. bewußt oder unbewußt auch davon beeinflußt, in welchem Umfange dem eigenen wirtschaftlichen Interesse der Eisenbahnen neben den bei ihrem Betrieb zu wahrenden öffentlichen Rücksichten ein Spielraum der Betätigung eingeräumt wird. Je nachdem der eine oder der andere dieser Gesichtspunkte als ausschlaggebend erkannt ist, wird der Staat sich entschließen, die Eisenbahnen als Teil der öffentlichen Verwaltung zu behandeln und ihre Ausführung sowie ihren Betrieb selbst zu übernehmen oder diese Tätigkeit der Privatbetriebsamkeit zu überlassen und die öffentlichen Interessen im Wege der Aufsicht und Überwachung sicherzustellen. Hieraus gehen zwei Grundformen der eisenbahnpolitischen Organisation des Eisenbahnwesens hervor: das Staatsbahnsystem und das Privatbahnsystem. Eine dritte Organisationsform bildet das gleichzeitige Bestehen von Staatsbahnen und Privatbahnen in demselben Staatsgebiete: das gemischte System im weiteren Sinne des Wortes. Weitere Arten ergaben sich im Falle der Trennung von Eigentum und Betrieb aus der Kombination der Rechtssubjekte Staat und Privatunternehmung als Staatsbetrieb von Privatbahnen und Pachtbetrieb von Staatsbahnen durch private Unternehmer.
Die eisenbahnpolitischen Systeme kommen in der Praxis kaum je ganz rein vor. Sie beziehen sich übrigens meist nur auf die Hauptbahnen, nicht auf die Bahnen niederer Ordnung (Lokal- und Kleinbahnen).
I. Privatbahnsystem. (Privatbahnen im Eigenbetriebe.)
Das Privatbahnsystem ist das älteste, mit dem Entstehen der Eisenbahnen in England und Nordamerika ins Leben getretene und in diesen beiden Ländern, von den englischen Kolonien abgesehen, noch heute alleinherrschende. Es hat sich in der ersten Zeit der Eisenbahnen mit diesen von England her nach dem Festland verbreitet, wo es mit Ausnahme Belgiens und einiger deutschen Staaten festen Fuß faßte und unter dem Einflüsse der Theorien der Manchester-Schule lange Zeit in überwiegender Geltung stand. Die leitenden Grundsätze dieses Systems, das die Eisenbahnen vornehmlich als Frachtführer (common carriers) und den Eisenbahnbetrieb als reine Transportindustrie auffaßt, laufen im Wesen darauf hinaus, daß es nicht Sache des Staates sei, sich mit dem Besitze oder Betriebe der Eisenbahnen zu befassen, der besser den Privatunternehmern überlassen bleibe. Der Staat habe sich darauf zu beschränken, die Eisenbahngesellschaften zu überwachen und zur Erfüllung der ihnen obliegenden Verpflichtungen sei es im Wege der Staatsaufsicht, sei es durch die Gerichte, anzuhalten. Dabei wird von der Ansicht ausgegangen, daß Eisenbahnen von Privatunternehmern in wirtschaftlicher Hinsicht besser verwaltet werden als von öffentlichen Körperschaften. Es wird hingewiesen auf die schärfere Wahrnehmung des eisenbahnfiskalischen Interesses durch die an dem Ertrage materiell beteiligten Leiter der Gesellschaften und ihrer Organe, auf die größere Bewegungsfreiheit in kaufmännischer und geschäftlicher Hinsicht bei den Privatunternehmungen, auf die geringere Abhängigkeit der Gesellschaften gegenüber den politischen und sozialen Strömungen, die auf den materiellen Erfolg des Bahnbetriebs nachteilig einwirken. Hiezu kommt noch das Bedenken, das Machtgebiet des Staates allzusehr, u. zw. auf Gebiete auszudehnen, die bisher der freien individuellen Betätigung der privaten Unternehmungslust offen standen, sowie die Sorge, den Staat finanziell mit Milliardenschulden für Eisenbahnzwecke sowie mit dem Risiko eines großartigen Transportbetriebs und seiner wechselnden Konjunkturen zu belasten. Diese Bedenken verbinden sich namentlich in Ländern mit rein parlamentarischer Regierung mit der Befürchtung, die politischen Wandlungen mit ihrem häufigen Personenwechsel auf das Gebiet des Eisenbahnwesens übergreifen zu sehen.
Diese Anschauungen führen zu der Schlußfolgerung, daß die Ausführung und der Betrieb der Eisenbahnen unter Aufsicht des Staates der Privattätigkeit zu überlassen sei, also zum reinen Privatbahnsystem.
In den Anfangsstadien des Privatbahnsystems erhoffte man eine den öffentlichen Interessen zusagende Gestaltung des Eisenbahnwesens von der in den englischen Eisenbahnkonzessionen nach dem Vorbilde der Kanalakte festgesetzten Befahrungsfreiheit der Schienenwege, die sich bald als technisch undurchführbar erwies; sodann von der Zulassung der sog. Linienkonkurrenz, d. i. des Baues von Bahnen, die den Verkehr in der gleichen Richtung bedienen und daher miteinander in Wettbewerb treten sollen. Die Erfahrung hat gezeigt, daß auch diese Erwartung keine zutreffende war 1.
1 Vgl. Wettbewerb.
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