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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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Stufengange der Verschlimmerung zu erzählen weiss, giebt er
nicht als abstracte Darlegung dessen, was im nothwendigen
Verlauf der Dinge kommen musste, sondern, wie er selbst es
ohne Zweifel wahrzunehmen glaubte, als Ueberlieferung eines
thatsächlich Geschehenen, als Geschichte. Von geschichtlicher
Ueberlieferung ist gleichwohl, wenn man von einzelnen unbe-
stimmten Erinnerungen absieht, nichts enthalten in dem, was
er von der Art und den Thaten der früheren Geschlechter
sagt. Es bleibt ein Gedankenbild, was er uns giebt. Und
eben darum hat die Entwicklung, wie er sie zeichnet, einen
aus dem Gedanken einer stufenweise absteigenden Verschlim-
merung deutlich bestimmten und darnach geregelten Verlauf.
Auf die stille Seligkeit des ersten Geschlechts, das keine
Laster kennt und keine Tugend, folgt im zweiten Geschlecht,
nach langer Unmündigkeit, Uebermuth und Vernachlässigung
der Götter; im dritten, ehernen Geschlecht bricht active Un-
tugend hervor, mit Krieg und Mord; das letzte Geschlecht,
in dessen Anfang sich der Dichter selbst zu stehen scheint,
zeigt gänzliche Zerrüttung aller sittlichen Bande. Das vierte
Geschlecht, dem die Heroen des thebanischen und troischen
Krieges angehören, allein unter den übrigen nach keinem Me-
tall benannt und gewerthet, steht fremd inmitten dieser Ent-
wicklung; das Absteigen zum Schlimmen wird im vierten Ge-
schlecht gehemmt, und doch geht es im fünften Geschlecht so
weiter, als ob es nirgends unterbrochen wäre. Man sieht also
nicht ein, zu welchem Zwecke es unterbrochen worden ist.
Erkennt man aber (mit den meisten Auslegern) in der Erzäh-
lung vom vierten Geschlecht ein, der Dichtung von den Welt-
altern ursprünglich fremdes Stück, von Hesiod in diese Dich-
tung, die er ihrem wesentlichen Bestande nach älteren Dichtern
entlehnen mochte, selbständig eingelegt, so muss man freilich
fragen, was den Dichter zu einer solchen Störung und Zer-
störung des klaren Verlaufs jener speculativen Dichtung be-
wegen konnte. Es würde nicht genügen, zu sagen, dass der
Dichter, in homerischer Poesie aufgenährt, es unmöglich fand

Stufengange der Verschlimmerung zu erzählen weiss, giebt er
nicht als abstracte Darlegung dessen, was im nothwendigen
Verlauf der Dinge kommen musste, sondern, wie er selbst es
ohne Zweifel wahrzunehmen glaubte, als Ueberlieferung eines
thatsächlich Geschehenen, als Geschichte. Von geschichtlicher
Ueberlieferung ist gleichwohl, wenn man von einzelnen unbe-
stimmten Erinnerungen absieht, nichts enthalten in dem, was
er von der Art und den Thaten der früheren Geschlechter
sagt. Es bleibt ein Gedankenbild, was er uns giebt. Und
eben darum hat die Entwicklung, wie er sie zeichnet, einen
aus dem Gedanken einer stufenweise absteigenden Verschlim-
merung deutlich bestimmten und darnach geregelten Verlauf.
Auf die stille Seligkeit des ersten Geschlechts, das keine
Laster kennt und keine Tugend, folgt im zweiten Geschlecht,
nach langer Unmündigkeit, Uebermuth und Vernachlässigung
der Götter; im dritten, ehernen Geschlecht bricht active Un-
tugend hervor, mit Krieg und Mord; das letzte Geschlecht,
in dessen Anfang sich der Dichter selbst zu stehen scheint,
zeigt gänzliche Zerrüttung aller sittlichen Bande. Das vierte
Geschlecht, dem die Heroen des thebanischen und troischen
Krieges angehören, allein unter den übrigen nach keinem Me-
tall benannt und gewerthet, steht fremd inmitten dieser Ent-
wicklung; das Absteigen zum Schlimmen wird im vierten Ge-
schlecht gehemmt, und doch geht es im fünften Geschlecht so
weiter, als ob es nirgends unterbrochen wäre. Man sieht also
nicht ein, zu welchem Zwecke es unterbrochen worden ist.
Erkennt man aber (mit den meisten Auslegern) in der Erzäh-
lung vom vierten Geschlecht ein, der Dichtung von den Welt-
altern ursprünglich fremdes Stück, von Hesiod in diese Dich-
tung, die er ihrem wesentlichen Bestande nach älteren Dichtern
entlehnen mochte, selbständig eingelegt, so muss man freilich
fragen, was den Dichter zu einer solchen Störung und Zer-
störung des klaren Verlaufs jener speculativen Dichtung be-
wegen konnte. Es würde nicht genügen, zu sagen, dass der
Dichter, in homerischer Poesie aufgenährt, es unmöglich fand

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[87/0103] Stufengange der Verschlimmerung zu erzählen weiss, giebt er nicht als abstracte Darlegung dessen, was im nothwendigen Verlauf der Dinge kommen musste, sondern, wie er selbst es ohne Zweifel wahrzunehmen glaubte, als Ueberlieferung eines thatsächlich Geschehenen, als Geschichte. Von geschichtlicher Ueberlieferung ist gleichwohl, wenn man von einzelnen unbe- stimmten Erinnerungen absieht, nichts enthalten in dem, was er von der Art und den Thaten der früheren Geschlechter sagt. Es bleibt ein Gedankenbild, was er uns giebt. Und eben darum hat die Entwicklung, wie er sie zeichnet, einen aus dem Gedanken einer stufenweise absteigenden Verschlim- merung deutlich bestimmten und darnach geregelten Verlauf. Auf die stille Seligkeit des ersten Geschlechts, das keine Laster kennt und keine Tugend, folgt im zweiten Geschlecht, nach langer Unmündigkeit, Uebermuth und Vernachlässigung der Götter; im dritten, ehernen Geschlecht bricht active Un- tugend hervor, mit Krieg und Mord; das letzte Geschlecht, in dessen Anfang sich der Dichter selbst zu stehen scheint, zeigt gänzliche Zerrüttung aller sittlichen Bande. Das vierte Geschlecht, dem die Heroen des thebanischen und troischen Krieges angehören, allein unter den übrigen nach keinem Me- tall benannt und gewerthet, steht fremd inmitten dieser Ent- wicklung; das Absteigen zum Schlimmen wird im vierten Ge- schlecht gehemmt, und doch geht es im fünften Geschlecht so weiter, als ob es nirgends unterbrochen wäre. Man sieht also nicht ein, zu welchem Zwecke es unterbrochen worden ist. Erkennt man aber (mit den meisten Auslegern) in der Erzäh- lung vom vierten Geschlecht ein, der Dichtung von den Welt- altern ursprünglich fremdes Stück, von Hesiod in diese Dich- tung, die er ihrem wesentlichen Bestande nach älteren Dichtern entlehnen mochte, selbständig eingelegt, so muss man freilich fragen, was den Dichter zu einer solchen Störung und Zer- störung des klaren Verlaufs jener speculativen Dichtung be- wegen konnte. Es würde nicht genügen, zu sagen, dass der Dichter, in homerischer Poesie aufgenährt, es unmöglich fand

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/103>, abgerufen am 21.11.2024.