und Wachsen des Uebels in der Menschenwelt, die uns der Dichter vorlegt. Von der Höhe göttergleichen Glückes sieht er die Menschheit stufenweise zu tiefstem Elend und äusserster Verworfenheit absteigen. Er folgt populären Vorstellungen. In die Vorzeit den Zustand irdischer Vollkommenheit zu ver- legen, ist allen Völkern natürlich, mindestens so lange nicht scharfe geschichtliche Erinnerung, sondern freundliche Mär- chen und glänzende Träume der Dichter ihnen von jener Vorzeit berichten und die Neigung der Phantasie, nur die angenehmen Züge der Vergangenheit dem Gedächtniss einzu- prägen, unterstützen. Vom goldenen Zeitalter und wie all- mählich die Menschheit sich hiervon immer weiter entfernt habe, wissen manche Völker zu sagen; es ist nicht einmal ver- wunderlich, dass phantastische Speculation, von dem gleichen Ausgangspuncte in gleicher Richtung weitergehend, bei mehr als einem Volke, ohne alle Einwirkung irgend welches geschicht- lichen Zusammenhanges, zu Ausdichtungen des durch mehrere Geschlechter abwärts steigenden Entwicklungsgangs zum Schlim- meren geführt worden ist, die unter einander und mit der hesiodischen Dichtung von den fünf Weltaltern die auffallendste Aehnlichkeit zeigen. Selbst den Homer überfällt wohl einmal eine Stimmung, wie sie solchen, die Vorzeit idealisirenden Dichtungen zu Grunde liegt, wenn er mitten in der Schilderung des heroischen Lebens daran denkt, "wie jetzt die Menschen sind", und "wie doch nur wenige Söhne den Vätern gleich sind an Tugend; schlimmer die meisten, ganz wenige nur besser sind als der Vater" (Od. 2, 276 f.). Aber der epische Dichter hält sich in der Höhe der heroischen Vergangenheit und der dichterischen Phantasie gleichsam schwebend, nur flüchtig fällt einmal sein Blick abwärts in die Niederungen des wirklichen Lebens. Der Dichter der "Werke und Tage" lebt mit allen seinen Gedanken in eben diesen Niederungen der Wirklichkeit und der Gegenwart; der Blick, den er einmal aufwärts richtet auf die Gipfel gefabelter Vorzeit, ist der schmerzlichere.
Was er von dem Urzustande der Menschheit und dem
und Wachsen des Uebels in der Menschenwelt, die uns der Dichter vorlegt. Von der Höhe göttergleichen Glückes sieht er die Menschheit stufenweise zu tiefstem Elend und äusserster Verworfenheit absteigen. Er folgt populären Vorstellungen. In die Vorzeit den Zustand irdischer Vollkommenheit zu ver- legen, ist allen Völkern natürlich, mindestens so lange nicht scharfe geschichtliche Erinnerung, sondern freundliche Mär- chen und glänzende Träume der Dichter ihnen von jener Vorzeit berichten und die Neigung der Phantasie, nur die angenehmen Züge der Vergangenheit dem Gedächtniss einzu- prägen, unterstützen. Vom goldenen Zeitalter und wie all- mählich die Menschheit sich hiervon immer weiter entfernt habe, wissen manche Völker zu sagen; es ist nicht einmal ver- wunderlich, dass phantastische Speculation, von dem gleichen Ausgangspuncte in gleicher Richtung weitergehend, bei mehr als einem Volke, ohne alle Einwirkung irgend welches geschicht- lichen Zusammenhanges, zu Ausdichtungen des durch mehrere Geschlechter abwärts steigenden Entwicklungsgangs zum Schlim- meren geführt worden ist, die unter einander und mit der hesiodischen Dichtung von den fünf Weltaltern die auffallendste Aehnlichkeit zeigen. Selbst den Homer überfällt wohl einmal eine Stimmung, wie sie solchen, die Vorzeit idealisirenden Dichtungen zu Grunde liegt, wenn er mitten in der Schilderung des heroischen Lebens daran denkt, „wie jetzt die Menschen sind“, und „wie doch nur wenige Söhne den Vätern gleich sind an Tugend; schlimmer die meisten, ganz wenige nur besser sind als der Vater“ (Od. 2, 276 f.). Aber der epische Dichter hält sich in der Höhe der heroischen Vergangenheit und der dichterischen Phantasie gleichsam schwebend, nur flüchtig fällt einmal sein Blick abwärts in die Niederungen des wirklichen Lebens. Der Dichter der „Werke und Tage“ lebt mit allen seinen Gedanken in eben diesen Niederungen der Wirklichkeit und der Gegenwart; der Blick, den er einmal aufwärts richtet auf die Gipfel gefabelter Vorzeit, ist der schmerzlichere.
Was er von dem Urzustande der Menschheit und dem
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und Wachsen des Uebels in der Menschenwelt, die uns der
Dichter vorlegt. Von der Höhe göttergleichen Glückes sieht
er die Menschheit stufenweise zu tiefstem Elend und äusserster
Verworfenheit absteigen. Er folgt populären Vorstellungen.
In die Vorzeit den Zustand irdischer Vollkommenheit zu ver-
legen, ist allen Völkern natürlich, mindestens so lange nicht
scharfe geschichtliche Erinnerung, sondern freundliche Mär-
chen und glänzende Träume der Dichter ihnen von jener
Vorzeit berichten und die Neigung der Phantasie, nur die
angenehmen Züge der Vergangenheit dem Gedächtniss einzu-
prägen, unterstützen. Vom goldenen Zeitalter und wie all-
mählich die Menschheit sich hiervon immer weiter entfernt
habe, wissen manche Völker zu sagen; es ist nicht einmal ver-
wunderlich, dass phantastische Speculation, von dem gleichen
Ausgangspuncte in gleicher Richtung weitergehend, bei mehr
als einem Volke, ohne alle Einwirkung irgend welches geschicht-
lichen Zusammenhanges, zu Ausdichtungen des durch mehrere
Geschlechter abwärts steigenden Entwicklungsgangs zum Schlim-
meren geführt worden ist, die unter einander und mit der
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Aehnlichkeit zeigen. Selbst den Homer überfällt wohl einmal
eine Stimmung, wie sie solchen, die Vorzeit idealisirenden
Dichtungen zu Grunde liegt, wenn er mitten in der Schilderung
des heroischen Lebens daran denkt, „wie jetzt die Menschen
sind“, und „wie doch nur wenige Söhne den Vätern gleich sind
an Tugend; schlimmer die meisten, ganz wenige nur besser
sind als der Vater“ (Od. 2, 276 f.). Aber der epische Dichter
hält sich in der Höhe der heroischen Vergangenheit und der
dichterischen Phantasie gleichsam schwebend, nur flüchtig fällt
einmal sein Blick abwärts in die Niederungen des wirklichen
Lebens. Der Dichter der „Werke und Tage“ lebt mit allen
seinen Gedanken in eben diesen Niederungen der Wirklichkeit
und der Gegenwart; der Blick, den er einmal aufwärts richtet
auf die Gipfel gefabelter Vorzeit, ist der schmerzlichere.
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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 86. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/102>, abgerufen am 21.11.2024.
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