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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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den olympischen Göttern scheinen sie in einem loseren Ver-
hältniss, wenn nicht einer Art von Gegensatz zu stehen. Wie
sie einst den Göttern keine fromme Verehrung bezeugten, so
heissen sie jetzt nicht, gleich den Seelen des ersten Geschlechts,
Dämonen, nach Zeus' Willen zu Wächtern der Menschen be-
stellt. Der Dichter nennt sie mit einer auffallenden Bezeich-
nung: "sterbliche Selige", d. h. sterbliche Götter. Diese ganz
singuläre Benennung, deren zwei Bestandtheile eigentlich ein-
ander gegenseitig aufheben, lässt eine gewisse Verlegenheit er-
kennen, diese dem Homer nicht bekannte Classe der Wesen
mit einem dem homerischen Sprachvorrath, auf den sich der
Dichter angewiesen sah, entlehnten Ausdruck treffend und deut-
lich zu bezeichnen 1). Die Seelengeister aus dem ersten Ge-
schlecht hatte er kurzweg "Dämonen" genannt. Aber diese
Benennung, welche jenen erst aus der Sterblichkeit zur Ewig-
keit übergegangenen Wesen mit den ewigen Göttern gemein-
sam war, liess den Wesensunterschied beider Classen der Un-
sterblichen unbezeichnet. Eben darum hat sie die spätere Zeit
niemals wieder in der gleichen Art wie hier Hesiod ver-

Scheidung tritt aber bei Hesiod nicht hervor, auch ist es kaum glaublich,
dass Götter oder Geister des griechischen Volksglaubens, auf welche die
Kategorien gut und böse überhaupt nicht recht anwendbar sind, in
naiver Zeit nach eben diesen Kategorien in Classen getheilt worden
seien. Jedenfalls fanden griechische Leser bei Hesiod nichts dergleichen
ausgesprochen; die Annahme böser Dämonen wird stets nur aus Philo-
sophen erhärtet (z. B. bei Plut. def. orac. 17), und sie ist auch gewiss nicht
älter als die älteste philosophische Reflexion.
1) V. 141: toi men upokhthonioi (epikhthonioi ausser einigen Hss. --
s. Köchlys Apparat -- auch Tzetzes) makares thnetoi kaleontai. -- phulakes
thnetoi las und erklärt Proclus. Dies ersichtlich falsch; phulakes thneton
(wie 123) corrigiren Hagen und Welcker. Aber damit überträgt man vom
ersten auf das zweite Geschlecht einen Begriff, von dem man nicht weiss,
ob Hesiod ihn dahin übertragen wissen will, man corrigirt also nicht
nur den Wortlaut, sondern den Gedankeninhalt, ohne Recht. Das makares
sieht gar nicht wie eine Fälschung aus; vielmehr wird thulakes eine Ver-
legenheitsänderung sein. up. makares thnetois kaleontai schreibt der
neueste Herausgeber: hiebei ist der Zusatz thnetois mindestens über-
flüssig. Man wird versuchen müssen, das Ueberlieferte zu erklären und
zu begreifen, woher der wunderliche Ausdruck dem Dichter gekommen ist.

den olympischen Göttern scheinen sie in einem loseren Ver-
hältniss, wenn nicht einer Art von Gegensatz zu stehen. Wie
sie einst den Göttern keine fromme Verehrung bezeugten, so
heissen sie jetzt nicht, gleich den Seelen des ersten Geschlechts,
Dämonen, nach Zeus’ Willen zu Wächtern der Menschen be-
stellt. Der Dichter nennt sie mit einer auffallenden Bezeich-
nung: „sterbliche Selige“, d. h. sterbliche Götter. Diese ganz
singuläre Benennung, deren zwei Bestandtheile eigentlich ein-
ander gegenseitig aufheben, lässt eine gewisse Verlegenheit er-
kennen, diese dem Homer nicht bekannte Classe der Wesen
mit einem dem homerischen Sprachvorrath, auf den sich der
Dichter angewiesen sah, entlehnten Ausdruck treffend und deut-
lich zu bezeichnen 1). Die Seelengeister aus dem ersten Ge-
schlecht hatte er kurzweg „Dämonen“ genannt. Aber diese
Benennung, welche jenen erst aus der Sterblichkeit zur Ewig-
keit übergegangenen Wesen mit den ewigen Göttern gemein-
sam war, liess den Wesensunterschied beider Classen der Un-
sterblichen unbezeichnet. Eben darum hat sie die spätere Zeit
niemals wieder in der gleichen Art wie hier Hesiod ver-

Scheidung tritt aber bei Hesiod nicht hervor, auch ist es kaum glaublich,
dass Götter oder Geister des griechischen Volksglaubens, auf welche die
Kategorien gut und böse überhaupt nicht recht anwendbar sind, in
naiver Zeit nach eben diesen Kategorien in Classen getheilt worden
seien. Jedenfalls fanden griechische Leser bei Hesiod nichts dergleichen
ausgesprochen; die Annahme böser Dämonen wird stets nur aus Philo-
sophen erhärtet (z. B. bei Plut. def. orac. 17), und sie ist auch gewiss nicht
älter als die älteste philosophische Reflexion.
1) V. 141: τοὶ μὲν ὑποχϑόνιοι (ἐπιχϑόνιοι ausser einigen Hss. —
s. Köchlys Apparat — auch Tzetzes) μάκαρες ϑνητοὶ καλέονται. — φύλακες
ϑνητοί las und erklärt Proclus. Dies ersichtlich falsch; φύλακες ϑνητῶν
(wie 123) corrigiren Hagen und Welcker. Aber damit überträgt man vom
ersten auf das zweite Geschlecht einen Begriff, von dem man nicht weiss,
ob Hesiod ihn dahin übertragen wissen will, man corrigirt also nicht
nur den Wortlaut, sondern den Gedankeninhalt, ohne Recht. Das μάκαρες
sieht gar nicht wie eine Fälschung aus; vielmehr wird ϑύλακες eine Ver-
legenheitsänderung sein. ὑπ. μάκαρες ϑνητοῖς καλέονται schreibt der
neueste Herausgeber: hiebei ist der Zusatz ϑνητοῖς mindestens über-
flüssig. Man wird versuchen müssen, das Ueberlieferte zu erklären und
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[94/0110] den olympischen Göttern scheinen sie in einem loseren Ver- hältniss, wenn nicht einer Art von Gegensatz zu stehen. Wie sie einst den Göttern keine fromme Verehrung bezeugten, so heissen sie jetzt nicht, gleich den Seelen des ersten Geschlechts, Dämonen, nach Zeus’ Willen zu Wächtern der Menschen be- stellt. Der Dichter nennt sie mit einer auffallenden Bezeich- nung: „sterbliche Selige“, d. h. sterbliche Götter. Diese ganz singuläre Benennung, deren zwei Bestandtheile eigentlich ein- ander gegenseitig aufheben, lässt eine gewisse Verlegenheit er- kennen, diese dem Homer nicht bekannte Classe der Wesen mit einem dem homerischen Sprachvorrath, auf den sich der Dichter angewiesen sah, entlehnten Ausdruck treffend und deut- lich zu bezeichnen 1). Die Seelengeister aus dem ersten Ge- schlecht hatte er kurzweg „Dämonen“ genannt. Aber diese Benennung, welche jenen erst aus der Sterblichkeit zur Ewig- keit übergegangenen Wesen mit den ewigen Göttern gemein- sam war, liess den Wesensunterschied beider Classen der Un- sterblichen unbezeichnet. Eben darum hat sie die spätere Zeit niemals wieder in der gleichen Art wie hier Hesiod ver- 2) 1) V. 141: τοὶ μὲν ὑποχϑόνιοι (ἐπιχϑόνιοι ausser einigen Hss. — s. Köchlys Apparat — auch Tzetzes) μάκαρες ϑνητοὶ καλέονται. — φύλακες ϑνητοί las und erklärt Proclus. Dies ersichtlich falsch; φύλακες ϑνητῶν (wie 123) corrigiren Hagen und Welcker. Aber damit überträgt man vom ersten auf das zweite Geschlecht einen Begriff, von dem man nicht weiss, ob Hesiod ihn dahin übertragen wissen will, man corrigirt also nicht nur den Wortlaut, sondern den Gedankeninhalt, ohne Recht. Das μάκαρες sieht gar nicht wie eine Fälschung aus; vielmehr wird ϑύλακες eine Ver- legenheitsänderung sein. ὑπ. μάκαρες ϑνητοῖς καλέονται schreibt der neueste Herausgeber: hiebei ist der Zusatz ϑνητοῖς mindestens über- flüssig. Man wird versuchen müssen, das Ueberlieferte zu erklären und zu begreifen, woher der wunderliche Ausdruck dem Dichter gekommen ist. 2) Scheidung tritt aber bei Hesiod nicht hervor, auch ist es kaum glaublich, dass Götter oder Geister des griechischen Volksglaubens, auf welche die Kategorien gut und böse überhaupt nicht recht anwendbar sind, in naiver Zeit nach eben diesen Kategorien in Classen getheilt worden seien. Jedenfalls fanden griechische Leser bei Hesiod nichts dergleichen ausgesprochen; die Annahme böser Dämonen wird stets nur aus Philo- sophen erhärtet (z. B. bei Plut. def. orac. 17), und sie ist auch gewiss nicht älter als die älteste philosophische Reflexion.

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 94. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/110>, abgerufen am 24.11.2024.