kung in griechischer Cultur. Aber nirgends hat das Fremde in Griechenland eine Uebermacht gewonnen, vergleichbar etwa der umstürzenden und neubildenden Gewalt, die der Buddhis- mus, das Christenthum, der Islam unter den Völkern ausgeübt haben, die sie vordringend ergriffen. Inmitten aller fremden Einwirkungen behauptete das griechische Wesen, gleich zäh wie geschmeidig, in aller Gelassenheit seine eigene Natur und seine geniale Naivetät. Fremdes und in eigener Bewegung erzeugtes Neues wird aufgenommen und angepasst, aber das Alte tritt darum nicht ab; langsam verschmilzt es mit dem Neuen, viel wird neu gelernt, nichts ganz vergessen. In gelindem Weiter- strömen bleibt es immer derselbe Fluss. Nec manet ut fuerat nec formas servat easdem: sed tamen ipse idem est --
So kennt denn die griechische Culturgeschichte keine schroff abgesetzten Zeiträume, keine scharf niederfahrenden Epochen- jahre, mit denen ein Altes völlig abgethan wäre, ein ganz Neues begönne. Zwar die tiefsten Umwälzungen griechischer Geschichte, Cultur und Religion liegen ohne Frage vor der Zeit des homerischen Epos, und in dieser Urzeit mögen heftigere und stossweis eintretende Erschütterungen das griechische Volk zu dem gemacht haben, als was wir es kennen. Uns beginnt das Griechenthum wirklich kenntlich zu werden erst mit Homer. Die einheitliche Geschlossenheit, die das in den homerischen Gedichten abgespiegelte Griechenthum erlangt zu haben scheint, löst sich freilich in der fortschreitenden Bewegung der fol- genden Zeiten auf. Neue Triebe drängen empor, unter der sich zersetzenden Decke der epischen, breit alles überziehenden Vorstellungsart tritt manches Alte wieder an's Licht heraus; aus Aeltestem und Neuem bilden sich Erscheinungen, von denen das Epos noch nichts ahnen liess. Aber es findet nirgends in den nächsten heftig bewegten Jahrhunderten nach Homer ein Bruch mit dem Epos und seiner Vorstellungswelt statt; erst seit dem sechsten Jahrhundert sucht die Speculation ein- zelner kühnen Geister mit Ungeduld aus der Atmosphäre der homerischen Dichtung, in der ganz Griechenland immer noch
kung in griechischer Cultur. Aber nirgends hat das Fremde in Griechenland eine Uebermacht gewonnen, vergleichbar etwa der umstürzenden und neubildenden Gewalt, die der Buddhis- mus, das Christenthum, der Islam unter den Völkern ausgeübt haben, die sie vordringend ergriffen. Inmitten aller fremden Einwirkungen behauptete das griechische Wesen, gleich zäh wie geschmeidig, in aller Gelassenheit seine eigene Natur und seine geniale Naivetät. Fremdes und in eigener Bewegung erzeugtes Neues wird aufgenommen und angepasst, aber das Alte tritt darum nicht ab; langsam verschmilzt es mit dem Neuen, viel wird neu gelernt, nichts ganz vergessen. In gelindem Weiter- strömen bleibt es immer derselbe Fluss. Nec manet ut fuerat nec formas servat easdem: sed tamen ipse idem est —
So kennt denn die griechische Culturgeschichte keine schroff abgesetzten Zeiträume, keine scharf niederfahrenden Epochen- jahre, mit denen ein Altes völlig abgethan wäre, ein ganz Neues begönne. Zwar die tiefsten Umwälzungen griechischer Geschichte, Cultur und Religion liegen ohne Frage vor der Zeit des homerischen Epos, und in dieser Urzeit mögen heftigere und stossweis eintretende Erschütterungen das griechische Volk zu dem gemacht haben, als was wir es kennen. Uns beginnt das Griechenthum wirklich kenntlich zu werden erst mit Homer. Die einheitliche Geschlossenheit, die das in den homerischen Gedichten abgespiegelte Griechenthum erlangt zu haben scheint, löst sich freilich in der fortschreitenden Bewegung der fol- genden Zeiten auf. Neue Triebe drängen empor, unter der sich zersetzenden Decke der epischen, breit alles überziehenden Vorstellungsart tritt manches Alte wieder an’s Licht heraus; aus Aeltestem und Neuem bilden sich Erscheinungen, von denen das Epos noch nichts ahnen liess. Aber es findet nirgends in den nächsten heftig bewegten Jahrhunderten nach Homer ein Bruch mit dem Epos und seiner Vorstellungswelt statt; erst seit dem sechsten Jahrhundert sucht die Speculation ein- zelner kühnen Geister mit Ungeduld aus der Atmosphäre der homerischen Dichtung, in der ganz Griechenland immer noch
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kung in griechischer Cultur. Aber nirgends hat das Fremde
in Griechenland eine Uebermacht gewonnen, vergleichbar etwa
der umstürzenden und neubildenden Gewalt, die der Buddhis-
mus, das Christenthum, der Islam unter den Völkern ausgeübt
haben, die sie vordringend ergriffen. Inmitten aller fremden
Einwirkungen behauptete das griechische Wesen, gleich zäh wie
geschmeidig, in aller Gelassenheit seine eigene Natur und seine
geniale Naivetät. Fremdes und in eigener Bewegung erzeugtes
Neues wird aufgenommen und angepasst, aber das Alte tritt
darum nicht ab; langsam verschmilzt es mit dem Neuen, viel
wird neu gelernt, nichts ganz vergessen. In gelindem Weiter-
strömen bleibt es immer derselbe Fluss. Nec manet ut fuerat
nec formas servat easdem: sed tamen ipse idem est —
So kennt denn die griechische Culturgeschichte keine schroff
abgesetzten Zeiträume, keine scharf niederfahrenden Epochen-
jahre, mit denen ein Altes völlig abgethan wäre, ein ganz
Neues begönne. Zwar die tiefsten Umwälzungen griechischer
Geschichte, Cultur und Religion liegen ohne Frage vor der
Zeit des homerischen Epos, und in dieser Urzeit mögen heftigere
und stossweis eintretende Erschütterungen das griechische Volk
zu dem gemacht haben, als was wir es kennen. Uns beginnt
das Griechenthum wirklich kenntlich zu werden erst mit Homer.
Die einheitliche Geschlossenheit, die das in den homerischen
Gedichten abgespiegelte Griechenthum erlangt zu haben scheint,
löst sich freilich in der fortschreitenden Bewegung der fol-
genden Zeiten auf. Neue Triebe drängen empor, unter der
sich zersetzenden Decke der epischen, breit alles überziehenden
Vorstellungsart tritt manches Alte wieder an’s Licht heraus;
aus Aeltestem und Neuem bilden sich Erscheinungen, von
denen das Epos noch nichts ahnen liess. Aber es findet nirgends
in den nächsten heftig bewegten Jahrhunderten nach Homer
ein Bruch mit dem Epos und seiner Vorstellungswelt statt;
erst seit dem sechsten Jahrhundert sucht die Speculation ein-
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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 105. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/121>, abgerufen am 21.11.2024.
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