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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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der Bewegung verborgen. Wir sehen manche äussere Ver-
änderung, aber von dem treibenden Leben, das sie hervorrief,
schlagen kaum einzelne abgerissene Laute an unser Ohr. Leicht
erkennt man, bei einer Vergleichung der späteren Religions-
zustände mit den homerischen, wie sich die Objecte des
Cultus ungemein vermehrt haben, wie der Cultus sich reicher
und feierlicher gestaltet, im Bunde mit den musischen Künsten
das religiöse Festleben der griechischen Städte und Stämme
sich schön und vielgestaltig entwickelt. Tempel und Bildwerke
geben von der erhöheten Macht und Bedeutung der Religion
anschauliches Zeugniss. Dass im Inneren, im religiösen Glauben
und Denken, sich vieles neu gestaltete, müsste schon der weit-
hin sichtbare Glanz des jetzt erst zu voller Wirkung gelan-
genden Orakels zu Delphi mit allen aus diesem geistigen
Centrum bestimmten Neubildungen des griechischen Religions-
lebens vermuthen lassen. In dieser Zeit bildete sich, unter
dem Einfluss der vertieften moralischen Empfindung, jene Um-
bildung auch der religiösen Welterklärung aus, die uns dann
bei Aeschylus und Pindar vollendet entgegentritt. Die Zeit war
entschieden "religiöser" als die, in deren Mitte Homer steht.
Es ist als ob die Griechen damals eine Periode durchlebt hätten,
wie sie Culturvölkern immer einmal wiederkehren, wie auch die
Griechen sie später wiederholt erlebten: in welchen der Sinn
aus einer wenigstens halb errungenen Freiheit von Beängstigung
und Beschränkung durch geglaubte unsichtbare Gewalten sich,
unter dem Einflusse schwerer Erlebnisse, zurücksehnt nach
einer Einhüllung in tröstliche, den Menschengeist mancher
eigenen Verantwortung entlastende Wahnvorstellungen.

Das Dunkel dieser Entwicklungszeiten verbirgt uns auch
das Werden und Wachsen eines von dem homerischen wesent-
lich verschiedenen Seelenglaubens. Die Ergebnisse der Ent-
wicklung liegen uns klar genug vor Augen; und wir können
noch unterscheiden, wie ein geregelter Seelencult und zuletzt
ein in vollem Sinne so zu nennender Unsterblichkeitsglaube
sich ausbilden im Gefolge von Erscheinungen, die theils das

der Bewegung verborgen. Wir sehen manche äussere Ver-
änderung, aber von dem treibenden Leben, das sie hervorrief,
schlagen kaum einzelne abgerissene Laute an unser Ohr. Leicht
erkennt man, bei einer Vergleichung der späteren Religions-
zustände mit den homerischen, wie sich die Objecte des
Cultus ungemein vermehrt haben, wie der Cultus sich reicher
und feierlicher gestaltet, im Bunde mit den musischen Künsten
das religiöse Festleben der griechischen Städte und Stämme
sich schön und vielgestaltig entwickelt. Tempel und Bildwerke
geben von der erhöheten Macht und Bedeutung der Religion
anschauliches Zeugniss. Dass im Inneren, im religiösen Glauben
und Denken, sich vieles neu gestaltete, müsste schon der weit-
hin sichtbare Glanz des jetzt erst zu voller Wirkung gelan-
genden Orakels zu Delphi mit allen aus diesem geistigen
Centrum bestimmten Neubildungen des griechischen Religions-
lebens vermuthen lassen. In dieser Zeit bildete sich, unter
dem Einfluss der vertieften moralischen Empfindung, jene Um-
bildung auch der religiösen Welterklärung aus, die uns dann
bei Aeschylus und Pindar vollendet entgegentritt. Die Zeit war
entschieden „religiöser“ als die, in deren Mitte Homer steht.
Es ist als ob die Griechen damals eine Periode durchlebt hätten,
wie sie Culturvölkern immer einmal wiederkehren, wie auch die
Griechen sie später wiederholt erlebten: in welchen der Sinn
aus einer wenigstens halb errungenen Freiheit von Beängstigung
und Beschränkung durch geglaubte unsichtbare Gewalten sich,
unter dem Einflusse schwerer Erlebnisse, zurücksehnt nach
einer Einhüllung in tröstliche, den Menschengeist mancher
eigenen Verantwortung entlastende Wahnvorstellungen.

Das Dunkel dieser Entwicklungszeiten verbirgt uns auch
das Werden und Wachsen eines von dem homerischen wesent-
lich verschiedenen Seelenglaubens. Die Ergebnisse der Ent-
wicklung liegen uns klar genug vor Augen; und wir können
noch unterscheiden, wie ein geregelter Seelencult und zuletzt
ein in vollem Sinne so zu nennender Unsterblichkeitsglaube
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[189/0205] der Bewegung verborgen. Wir sehen manche äussere Ver- änderung, aber von dem treibenden Leben, das sie hervorrief, schlagen kaum einzelne abgerissene Laute an unser Ohr. Leicht erkennt man, bei einer Vergleichung der späteren Religions- zustände mit den homerischen, wie sich die Objecte des Cultus ungemein vermehrt haben, wie der Cultus sich reicher und feierlicher gestaltet, im Bunde mit den musischen Künsten das religiöse Festleben der griechischen Städte und Stämme sich schön und vielgestaltig entwickelt. Tempel und Bildwerke geben von der erhöheten Macht und Bedeutung der Religion anschauliches Zeugniss. Dass im Inneren, im religiösen Glauben und Denken, sich vieles neu gestaltete, müsste schon der weit- hin sichtbare Glanz des jetzt erst zu voller Wirkung gelan- genden Orakels zu Delphi mit allen aus diesem geistigen Centrum bestimmten Neubildungen des griechischen Religions- lebens vermuthen lassen. In dieser Zeit bildete sich, unter dem Einfluss der vertieften moralischen Empfindung, jene Um- bildung auch der religiösen Welterklärung aus, die uns dann bei Aeschylus und Pindar vollendet entgegentritt. Die Zeit war entschieden „religiöser“ als die, in deren Mitte Homer steht. Es ist als ob die Griechen damals eine Periode durchlebt hätten, wie sie Culturvölkern immer einmal wiederkehren, wie auch die Griechen sie später wiederholt erlebten: in welchen der Sinn aus einer wenigstens halb errungenen Freiheit von Beängstigung und Beschränkung durch geglaubte unsichtbare Gewalten sich, unter dem Einflusse schwerer Erlebnisse, zurücksehnt nach einer Einhüllung in tröstliche, den Menschengeist mancher eigenen Verantwortung entlastende Wahnvorstellungen. Das Dunkel dieser Entwicklungszeiten verbirgt uns auch das Werden und Wachsen eines von dem homerischen wesent- lich verschiedenen Seelenglaubens. Die Ergebnisse der Ent- wicklung liegen uns klar genug vor Augen; und wir können noch unterscheiden, wie ein geregelter Seelencult und zuletzt ein in vollem Sinne so zu nennender Unsterblichkeitsglaube sich ausbilden im Gefolge von Erscheinungen, die theils das

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 189. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/205>, abgerufen am 23.11.2024.