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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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dieses Sühnungswesens 1); gewiss nach dem Brauche griechi-
scher Städte bestimmt Plato in den "Gesetzen", dass die
Satzungen über Reinigung und Sühnung sein Staat aus Delphi
holen solle 2).

4.

Dadurch nun, dass das Orakel des allwissenden Gottes
die Mordsühne heiligte und empfahl, der Staat die Verfolgung
des Mordes auf der Grundlage alter Familienblutrache regelte,
gewannen die Vorstellungen, auf denen diese Veranstaltungen
des Staates und der Religion begründet waren, die Ueber-
zeugung von dem bewussten Weiterleben der Seele des Er-
mordeten, ihrem Wissen um die Vorgänge unter den Ueber-
lebenden, ihrem Zorn und ihrer Macht, etwas von der Kraft
eines Glaubenssatzes. Die Sicherheit dieses Glaubens tritt uns
noch entgegen in den Reden bei Mordprocessen, in denen
Antiphon, der Sinnesart seines (wirklichen oder fingirten)
Publicums sich anpassend, mit der Anrufung der zürnenden
Seele des Todten und der dämonischen Rachegeister als mit
unbezweifelten Realitäten Schauer erregt 3). Um die Seelen

1) Die drei exegetai puthokhrestoi, ois melei kathairein tous agei tini
eniskhethentas Timaeus lex. Pl. p. 109 R.
2) Plato Leg. 9, 865 B: der Thäter eines phonos akousios (besonderer
Art) kathartheis kata ton ek Delphon komisthenta peri touton nomon esto
katharos.
3) Ich stelle aus den Reden und (ihrer Aechtheit nach völlig unver-
dächtigen) Tetralogien des Antiphon die Aussagen zusammen, die über
die bei Mordprocessen zu Grunde liegenden religiösen Vorstellungen Licht
geben. -- Betheiligt an der Verfolgung der Mörder sind: o tethneos, oi
nomoi und theoi oi kato: or. 1, 31. Daher heisst die Anstrengung des Pro-
cesses von Seiten der Verwandten des Todten boethein to tethneoti:
1, 31. Tetr. 1 b, 13. Die Verurtheilung des Mörders ist timoria to adi-
kethenti, ganz eigentlich Rache: or. 5, 58 = 6, 6. Die klagenden Ver-
wandten stehen vor Gericht als Vertreter des Todten, anti tou pathontos
episkeptomen umin -- sagen sie zu den Richtern, Tetr. 3 g, 7. Auf ihnen
lastet mit der Pflicht der Klage das asebema der Blutthat, bis sie gesühnt
ist: Tetr. 1 a, 3. Aber das miasma der Blutthat befleckt die ganze Stadt,
der Mörder verunreinigt durch seine blosse Gegenwart alle, die mit ihm
an Einem Tische sitzen, unter Einem Dache leben, die Heiligthümer, die

dieses Sühnungswesens 1); gewiss nach dem Brauche griechi-
scher Städte bestimmt Plato in den „Gesetzen“, dass die
Satzungen über Reinigung und Sühnung sein Staat aus Delphi
holen solle 2).

4.

Dadurch nun, dass das Orakel des allwissenden Gottes
die Mordsühne heiligte und empfahl, der Staat die Verfolgung
des Mordes auf der Grundlage alter Familienblutrache regelte,
gewannen die Vorstellungen, auf denen diese Veranstaltungen
des Staates und der Religion begründet waren, die Ueber-
zeugung von dem bewussten Weiterleben der Seele des Er-
mordeten, ihrem Wissen um die Vorgänge unter den Ueber-
lebenden, ihrem Zorn und ihrer Macht, etwas von der Kraft
eines Glaubenssatzes. Die Sicherheit dieses Glaubens tritt uns
noch entgegen in den Reden bei Mordprocessen, in denen
Antiphon, der Sinnesart seines (wirklichen oder fingirten)
Publicums sich anpassend, mit der Anrufung der zürnenden
Seele des Todten und der dämonischen Rachegeister als mit
unbezweifelten Realitäten Schauer erregt 3). Um die Seelen

1) Die drei ἐξηγηταὶ πυϑόχρηστοι, οἷς μέλει καϑαίρειν τοὺς ἄγει τινὶ
ἐνισχηϑέντας Timaeus lex. Pl. p. 109 R.
2) Plato Leg. 9, 865 B: der Thäter eines φόνος ἀκούσιος (besonderer
Art) καϑαρϑεὶς κατὰ τὸν ἐκ Δελφῶν κομισϑέντα περὶ τούτων νόμον ἔστω
καϑαρός.
3) Ich stelle aus den Reden und (ihrer Aechtheit nach völlig unver-
dächtigen) Tetralogien des Antiphon die Aussagen zusammen, die über
die bei Mordprocessen zu Grunde liegenden religiösen Vorstellungen Licht
geben. — Betheiligt an der Verfolgung der Mörder sind: ὁ τεϑνεώς, οἱ
νόμοι und ϑεοὶ οἱ κάτω: or. 1, 31. Daher heisst die Anstrengung des Pro-
cesses von Seiten der Verwandten des Todten βοηϑεῖν τῷ τεϑνεῶτι:
1, 31. Tetr. 1 β, 13. Die Verurtheilung des Mörders ist τιμωρία τῷ ἀδι-
κηϑέντι, ganz eigentlich Rache: or. 5, 58 = 6, 6. Die klagenden Ver-
wandten stehen vor Gericht als Vertreter des Todten, ἀντὶ τοῦ παϑόντος
ἐπισκήπτομεν ὑμῖν — sagen sie zu den Richtern, Tetr. 3 γ, 7. Auf ihnen
lastet mit der Pflicht der Klage das ἀσέβημα der Blutthat, bis sie gesühnt
ist: Tetr. 1 α, 3. Aber das μίασμα der Blutthat befleckt die ganze Stadt,
der Mörder verunreinigt durch seine blosse Gegenwart alle, die mit ihm
an Einem Tische sitzen, unter Einem Dache leben, die Heiligthümer, die
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[251/0267] dieses Sühnungswesens 1); gewiss nach dem Brauche griechi- scher Städte bestimmt Plato in den „Gesetzen“, dass die Satzungen über Reinigung und Sühnung sein Staat aus Delphi holen solle 2). 4. Dadurch nun, dass das Orakel des allwissenden Gottes die Mordsühne heiligte und empfahl, der Staat die Verfolgung des Mordes auf der Grundlage alter Familienblutrache regelte, gewannen die Vorstellungen, auf denen diese Veranstaltungen des Staates und der Religion begründet waren, die Ueber- zeugung von dem bewussten Weiterleben der Seele des Er- mordeten, ihrem Wissen um die Vorgänge unter den Ueber- lebenden, ihrem Zorn und ihrer Macht, etwas von der Kraft eines Glaubenssatzes. Die Sicherheit dieses Glaubens tritt uns noch entgegen in den Reden bei Mordprocessen, in denen Antiphon, der Sinnesart seines (wirklichen oder fingirten) Publicums sich anpassend, mit der Anrufung der zürnenden Seele des Todten und der dämonischen Rachegeister als mit unbezweifelten Realitäten Schauer erregt 3). Um die Seelen 1) Die drei ἐξηγηταὶ πυϑόχρηστοι, οἷς μέλει καϑαίρειν τοὺς ἄγει τινὶ ἐνισχηϑέντας Timaeus lex. Pl. p. 109 R. 2) Plato Leg. 9, 865 B: der Thäter eines φόνος ἀκούσιος (besonderer Art) καϑαρϑεὶς κατὰ τὸν ἐκ Δελφῶν κομισϑέντα περὶ τούτων νόμον ἔστω καϑαρός. 3) Ich stelle aus den Reden und (ihrer Aechtheit nach völlig unver- dächtigen) Tetralogien des Antiphon die Aussagen zusammen, die über die bei Mordprocessen zu Grunde liegenden religiösen Vorstellungen Licht geben. — Betheiligt an der Verfolgung der Mörder sind: ὁ τεϑνεώς, οἱ νόμοι und ϑεοὶ οἱ κάτω: or. 1, 31. Daher heisst die Anstrengung des Pro- cesses von Seiten der Verwandten des Todten βοηϑεῖν τῷ τεϑνεῶτι: 1, 31. Tetr. 1 β, 13. Die Verurtheilung des Mörders ist τιμωρία τῷ ἀδι- κηϑέντι, ganz eigentlich Rache: or. 5, 58 = 6, 6. Die klagenden Ver- wandten stehen vor Gericht als Vertreter des Todten, ἀντὶ τοῦ παϑόντος ἐπισκήπτομεν ὑμῖν — sagen sie zu den Richtern, Tetr. 3 γ, 7. Auf ihnen lastet mit der Pflicht der Klage das ἀσέβημα der Blutthat, bis sie gesühnt ist: Tetr. 1 α, 3. Aber das μίασμα der Blutthat befleckt die ganze Stadt, der Mörder verunreinigt durch seine blosse Gegenwart alle, die mit ihm an Einem Tische sitzen, unter Einem Dache leben, die Heiligthümer, die

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 251. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/267>, abgerufen am 24.11.2024.