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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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ist eine sehr wahrscheinliche Vermuthung, dass diesen Gott,
der bald fast für die Hauptfigur jenes Götterkreises galt 1),
erst Athen dem Bunde der in Eleusis verehrten Götter zu-
geführt habe. Sein Tempelsitz war in Athen, nicht in Eleusis 2),
in der athenischen Vorstadt Agrae wurden ihm im Frühjahr
die "kleinen Mysterien", als "Vorweihe" der grossen, gefeiert;
an den Eleusinien selbst bildete der Festzug, in dem man das
Bild des jugendlichen Gottes von Athen nach Eleusis trug,
das Band zwischen den in Athen gefeierten und den in Eleusis
zu feiernden Abschnitten des Festes. Durch die Einfügung
des Iakchos in die eleusinische Feier ist nicht nur der Kreis
der an ihr betheiligten Götter äusserlich erweitert, sondern die
heilige Geschichte, deren Darstellung Ziel und Höhe des Festes
war, um einen Act ausgedehnt 3), und allem Vermuthen nach
doch auch innerlich bereichert und ausgestaltet worden. Uns
ist es freilich schlechterdings versagt, über den Sinn und Geist
der Wandlung, die im Laufe der Zeit die also erweiterte Feier
durchgemacht hat, auch nur eine bestimmte Vermuthung uns
zu bilden. Nur so viel dürfen wir behaupten, dass zu der
oft vorgebrachten Annahme, die Privatmysterien der orphi-
schen
Conventikel hätten auf die Mysterienfeier des athenischen
Staates einen umgestaltenden Einfluss geübt, keinerlei Anlass

1) Iakkhos (dort von Dionusos deutlich unterschieden), tes Demetros dai-
mon, heisst o arkhegetes ton musterion bei Strabo 10, 468 (vgl. Ar. Ran. 398 f.).
2) Das Iakkheion (Plut. Aristid. 27. Alciphron. epist. 3, 59, 1).
3) Kam in den Mysterienaufführungen auch die Geburt des Iakchos
vor? Man könnte es vermuthen nach dem, was Hippolyt. ref. haeres. 5, 8
p. 115 Mill. mittheilt: dass der Hierophant nuktos en Eleusini upo pollo
puri telon ta musteria boa kai kekrage legon ; ieron eteke potnia kouron Brimo
brimon. Freilich ist aber diese, wie die meisten der, aus Nachrichten
älterer Zeit nicht zu bestätigenden Mittheilungen christlicher Schriftsteller
über Mysterienwesen höchstens als für die Zeit des Berichterstatters
gültig zuzulassen. (Gleich daneben steht bei Hippolytus die wunderliche
Angabe, dass der Hierophant eunoukhismenos dia koneiou sei. Hiervon weiss
z. B. Epictet. dissert. 3, 21, 16 nichts, sondern nur von der [wohl auf die
Zeit des Festes und seiner Vorbereitung beschränkten] agneia des Hiero-
phanten. Wohl aber redet von dem cicutae sorbitione castrari des Hiero-
phanten Hieronymus adv. Jovin. 1, 49 p. 320 C Vall.)

ist eine sehr wahrscheinliche Vermuthung, dass diesen Gott,
der bald fast für die Hauptfigur jenes Götterkreises galt 1),
erst Athen dem Bunde der in Eleusis verehrten Götter zu-
geführt habe. Sein Tempelsitz war in Athen, nicht in Eleusis 2),
in der athenischen Vorstadt Agrae wurden ihm im Frühjahr
die „kleinen Mysterien“, als „Vorweihe“ der grossen, gefeiert;
an den Eleusinien selbst bildete der Festzug, in dem man das
Bild des jugendlichen Gottes von Athen nach Eleusis trug,
das Band zwischen den in Athen gefeierten und den in Eleusis
zu feiernden Abschnitten des Festes. Durch die Einfügung
des Iakchos in die eleusinische Feier ist nicht nur der Kreis
der an ihr betheiligten Götter äusserlich erweitert, sondern die
heilige Geschichte, deren Darstellung Ziel und Höhe des Festes
war, um einen Act ausgedehnt 3), und allem Vermuthen nach
doch auch innerlich bereichert und ausgestaltet worden. Uns
ist es freilich schlechterdings versagt, über den Sinn und Geist
der Wandlung, die im Laufe der Zeit die also erweiterte Feier
durchgemacht hat, auch nur eine bestimmte Vermuthung uns
zu bilden. Nur so viel dürfen wir behaupten, dass zu der
oft vorgebrachten Annahme, die Privatmysterien der orphi-
schen
Conventikel hätten auf die Mysterienfeier des athenischen
Staates einen umgestaltenden Einfluss geübt, keinerlei Anlass

1) Ἴακχος (dort von Διόνυσος deutlich unterschieden), τῆς Δήμητρος δαί-
μων, heisst ὁ ἀρχηγέτης τῶν μυστηρίων bei Strabo 10, 468 (vgl. Ar. Ran. 398 f.).
2) Das Ἰακχεῖον (Plut. Aristid. 27. Alciphron. epist. 3, 59, 1).
3) Kam in den Mysterienaufführungen auch die Geburt des Iakchos
vor? Man könnte es vermuthen nach dem, was Hippolyt. ref. haeres. 5, 8
p. 115 Mill. mittheilt: dass der Hierophant νυκτὸς ἐν Ἐλευσῖνι ὑπὸ πολλῷ
πυρὶ τελῶν τὰ μυστήρια βοᾷ καὶ κέκραγε λέγων · ἱερὸν ἔτεκε πότνια κοῦρον Βριμὼ
βριμόν. Freilich ist aber diese, wie die meisten der, aus Nachrichten
älterer Zeit nicht zu bestätigenden Mittheilungen christlicher Schriftsteller
über Mysterienwesen höchstens als für die Zeit des Berichterstatters
gültig zuzulassen. (Gleich daneben steht bei Hippolytus die wunderliche
Angabe, dass der Hierophant εὐνουχισμένος διὰ κωνείου sei. Hiervon weiss
z. B. Epictet. dissert. 3, 21, 16 nichts, sondern nur von der [wohl auf die
Zeit des Festes und seiner Vorbereitung beschränkten] ἁγνεία des Hiero-
phanten. Wohl aber redet von dem cicutae sorbitione castrari des Hiero-
phanten Hieronymus adv. Jovin. 1, 49 p. 320 C Vall.)
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[262/0278] ist eine sehr wahrscheinliche Vermuthung, dass diesen Gott, der bald fast für die Hauptfigur jenes Götterkreises galt 1), erst Athen dem Bunde der in Eleusis verehrten Götter zu- geführt habe. Sein Tempelsitz war in Athen, nicht in Eleusis 2), in der athenischen Vorstadt Agrae wurden ihm im Frühjahr die „kleinen Mysterien“, als „Vorweihe“ der grossen, gefeiert; an den Eleusinien selbst bildete der Festzug, in dem man das Bild des jugendlichen Gottes von Athen nach Eleusis trug, das Band zwischen den in Athen gefeierten und den in Eleusis zu feiernden Abschnitten des Festes. Durch die Einfügung des Iakchos in die eleusinische Feier ist nicht nur der Kreis der an ihr betheiligten Götter äusserlich erweitert, sondern die heilige Geschichte, deren Darstellung Ziel und Höhe des Festes war, um einen Act ausgedehnt 3), und allem Vermuthen nach doch auch innerlich bereichert und ausgestaltet worden. Uns ist es freilich schlechterdings versagt, über den Sinn und Geist der Wandlung, die im Laufe der Zeit die also erweiterte Feier durchgemacht hat, auch nur eine bestimmte Vermuthung uns zu bilden. Nur so viel dürfen wir behaupten, dass zu der oft vorgebrachten Annahme, die Privatmysterien der orphi- schen Conventikel hätten auf die Mysterienfeier des athenischen Staates einen umgestaltenden Einfluss geübt, keinerlei Anlass 1) Ἴακχος (dort von Διόνυσος deutlich unterschieden), τῆς Δήμητρος δαί- μων, heisst ὁ ἀρχηγέτης τῶν μυστηρίων bei Strabo 10, 468 (vgl. Ar. Ran. 398 f.). 2) Das Ἰακχεῖον (Plut. Aristid. 27. Alciphron. epist. 3, 59, 1). 3) Kam in den Mysterienaufführungen auch die Geburt des Iakchos vor? Man könnte es vermuthen nach dem, was Hippolyt. ref. haeres. 5, 8 p. 115 Mill. mittheilt: dass der Hierophant νυκτὸς ἐν Ἐλευσῖνι ὑπὸ πολλῷ πυρὶ τελῶν τὰ μυστήρια βοᾷ καὶ κέκραγε λέγων · ἱερὸν ἔτεκε πότνια κοῦρον Βριμὼ βριμόν. Freilich ist aber diese, wie die meisten der, aus Nachrichten älterer Zeit nicht zu bestätigenden Mittheilungen christlicher Schriftsteller über Mysterienwesen höchstens als für die Zeit des Berichterstatters gültig zuzulassen. (Gleich daneben steht bei Hippolytus die wunderliche Angabe, dass der Hierophant εὐνουχισμένος διὰ κωνείου sei. Hiervon weiss z. B. Epictet. dissert. 3, 21, 16 nichts, sondern nur von der [wohl auf die Zeit des Festes und seiner Vorbereitung beschränkten] ἁγνεία des Hiero- phanten. Wohl aber redet von dem cicutae sorbitione castrari des Hiero- phanten Hieronymus adv. Jovin. 1, 49 p. 320 C Vall.)

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 262. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/278>, abgerufen am 24.11.2024.