sieht auch nicht, wo in dem Mysterienwesen die Organe zu einer sittlichen Einwirkung gewesen sein könnten. Ein festes Dogma in religiösem Gebiet dienten die Mysterien herzustellen sowenig wie irgend ein anderer griechischer Götterdienst. Auch hatte der Mysteriencult nichts Ausschliessendes, neben und nach ihm nahmen die Mysten an anderem Götterdienst theil, nach der Weise ihrer Heimath. Und es blieb nach vollendetem Feste kein Stachel im Herzen der Geweiheten. Keine Auf- forderung zu veränderter Lebensführung, keine neue und eigene Bestimmung der Gesinnung trug man von dannen, keine von der herkömmlichen abweichende Schätzung der Werthe des Lebens hatte man gelernt; es fehlte gänzlich das, was (wenn man das Wort richtig verstehen will) religiösen Sectenlehren erst Wirkung und Macht giebt: das Paradoxe. Auch was dem Geweiheten an jenseitigem Glück in Aussicht gestellt wurde, riss ihn nicht aus seinen gewohnten Bahnen. Es war ein sanfter Ausblick, keine an sich ziehende, aus dem Leben ziehende Aufforderung. So hell strahlte das Licht von drüben nicht, dass vor seinem Glanz das irdische Dasein trübe und gering erschienen wäre. Wenn seit den Zeiten der Ueberreife griechischer Bildung auch unter dem Volke Homers der lebens- feindliche Gedanke auftauchte und nicht geringe Macht ge- wann, dass Sterben besser sei als Leben, dass dieses Leben, das einzige, dessen wir gewiss sind, nur eine Vorbereitung sei, ein Durchgang zu einem höheren Leben in einer unsichtbaren Welt: -- die Mysterien von Eleusis sind daran unschuldig. Nicht sie, nicht die aus ihren Bildern und Darstellungen ge- wonnenen Ahnungen und Stimmungen sind es gewesen, die "jenseitstrunkenen" Schwärmern dieses irdische Dasein ent- werthet und sie den lebendigen Instincten des alten, un- gebrochenen Griechenthums entfremdet haben.
kai tous idiotas. (Von den samothrakischen Mysterien Diodor. 5, 49, 6: ginesthai de phasi kai eusebesterous kai dikaioterous kai kata pan beltionas eauton tous ton musterion koinonesantas: wie es scheint, ohne eigene Anstrengung, durch bequeme Gnadenwirkung.)
sieht auch nicht, wo in dem Mysterienwesen die Organe zu einer sittlichen Einwirkung gewesen sein könnten. Ein festes Dogma in religiösem Gebiet dienten die Mysterien herzustellen sowenig wie irgend ein anderer griechischer Götterdienst. Auch hatte der Mysteriencult nichts Ausschliessendes, neben und nach ihm nahmen die Mysten an anderem Götterdienst theil, nach der Weise ihrer Heimath. Und es blieb nach vollendetem Feste kein Stachel im Herzen der Geweiheten. Keine Auf- forderung zu veränderter Lebensführung, keine neue und eigene Bestimmung der Gesinnung trug man von dannen, keine von der herkömmlichen abweichende Schätzung der Werthe des Lebens hatte man gelernt; es fehlte gänzlich das, was (wenn man das Wort richtig verstehen will) religiösen Sectenlehren erst Wirkung und Macht giebt: das Paradoxe. Auch was dem Geweiheten an jenseitigem Glück in Aussicht gestellt wurde, riss ihn nicht aus seinen gewohnten Bahnen. Es war ein sanfter Ausblick, keine an sich ziehende, aus dem Leben ziehende Aufforderung. So hell strahlte das Licht von drüben nicht, dass vor seinem Glanz das irdische Dasein trübe und gering erschienen wäre. Wenn seit den Zeiten der Ueberreife griechischer Bildung auch unter dem Volke Homers der lebens- feindliche Gedanke auftauchte und nicht geringe Macht ge- wann, dass Sterben besser sei als Leben, dass dieses Leben, das einzige, dessen wir gewiss sind, nur eine Vorbereitung sei, ein Durchgang zu einem höheren Leben in einer unsichtbaren Welt: — die Mysterien von Eleusis sind daran unschuldig. Nicht sie, nicht die aus ihren Bildern und Darstellungen ge- wonnenen Ahnungen und Stimmungen sind es gewesen, die „jenseitstrunkenen“ Schwärmern dieses irdische Dasein ent- werthet und sie den lebendigen Instincten des alten, un- gebrochenen Griechenthums entfremdet haben.
καὶ τοὺς ἰδιώτας. (Von den samothrakischen Mysterien Diodor. 5, 49, 6: γίνεσϑαι δέ φασι καὶ εὐσεβεστέρους καὶ δικαιοτέρους καὶ κατὰ πᾶν βελτίονας ἑαυτῶν τοὺς τῶν μυστηρίων κοινωνήσαντας: wie es scheint, ohne eigene Anstrengung, durch bequeme Gnadenwirkung.)
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sieht auch nicht, wo in dem Mysterienwesen die Organe zu
einer sittlichen Einwirkung gewesen sein könnten. Ein festes
Dogma in religiösem Gebiet dienten die Mysterien herzustellen
sowenig wie irgend ein anderer griechischer Götterdienst. Auch
hatte der Mysteriencult nichts Ausschliessendes, neben und
nach ihm nahmen die Mysten an anderem Götterdienst theil,
nach der Weise ihrer Heimath. Und es blieb nach vollendetem
Feste kein Stachel im Herzen der Geweiheten. Keine Auf-
forderung zu veränderter Lebensführung, keine neue und eigene
Bestimmung der Gesinnung trug man von dannen, keine von
der herkömmlichen abweichende Schätzung der Werthe des
Lebens hatte man gelernt; es fehlte gänzlich das, was (wenn
man das Wort richtig verstehen will) religiösen Sectenlehren
erst Wirkung und Macht giebt: das Paradoxe. Auch was
dem Geweiheten an jenseitigem Glück in Aussicht gestellt
wurde, riss ihn nicht aus seinen gewohnten Bahnen. Es war
ein sanfter Ausblick, keine an sich ziehende, aus dem Leben
ziehende Aufforderung. So hell strahlte das Licht von drüben
nicht, dass vor seinem Glanz das irdische Dasein trübe und
gering erschienen wäre. Wenn seit den Zeiten der Ueberreife
griechischer Bildung auch unter dem Volke Homers der lebens-
feindliche Gedanke auftauchte und nicht geringe Macht ge-
wann, dass Sterben besser sei als Leben, dass dieses Leben,
das einzige, dessen wir gewiss sind, nur eine Vorbereitung sei,
ein Durchgang zu einem höheren Leben in einer unsichtbaren
Welt: — die Mysterien von Eleusis sind daran unschuldig.
Nicht sie, nicht die aus ihren Bildern und Darstellungen ge-
wonnenen Ahnungen und Stimmungen sind es gewesen, die
„jenseitstrunkenen“ Schwärmern dieses irdische Dasein ent-
werthet und sie den lebendigen Instincten des alten, un-
gebrochenen Griechenthums entfremdet haben.
3)
3) καὶ τοὺς ἰδιώτας. (Von den samothrakischen Mysterien Diodor. 5, 49, 6:
γίνεσϑαι δέ φασι καὶ εὐσεβεστέρους καὶ δικαιοτέρους καὶ κατὰ πᾶν βελτίονας
ἑαυτῶν τοὺς τῶν μυστηρίων κοινωνήσαντας: wie es scheint, ohne eigene
Anstrengung, durch bequeme Gnadenwirkung.)
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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 276. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/292>, abgerufen am 23.11.2024.
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