zurückgedrängten Allgemeinansicht gewinnen können. Es gilt nur, die Augen nicht, in vorgefasster Meinung, zu verschliessen vor diesen "Rudimenten" (survivals nennen sie deutlicher eng- lische Gelehrte) einer abgethanen Culturstufe mitten im Homer.
5.
Es fehlt in den homerischen Gedichten nicht an Rudi- menten eines einst sehr lebhaften Seelencultes. Vor Allem ist hier dessen zu gedenken, was die Ilias von der Behandlung der Leiche des Patroklos erzählt. Man führe sich nur die Hauptzüge dieser Erzählung vor das Gedächtniss. Am Abend des Tages, an dem Hektor erschlagen ist, stimmt Achill mit seinen Myrmidonen die Todtenklage um den Freund an; drei- mal umfahren sie die Leiche, Achill, dem Patroklos die "mör- derischen Hände" auf die Brust legend, ruft ihm zu: "Gruss dir, mein Patroklos, noch an des Aides Wohnung"; was ich dir zuvor gelobt, das wird jetzt alles vollbracht. Hektor liegt erschlagen als Beute der Hunde, und zwölf edle Troerjüng- linge werde ich an deinem Todtenfeuer enthaupten. Nach Ab- legung der Waffen rüstet er den Seinen das Todtenmahl, Stiere, Schafe, Ziegen und Schweine werden geschlachtet, "und rings strömte, mit Bechern zu schöpfen, das Blut um den Leichnam". -- In der Nacht erscheint dem Achill im Traume die Seele des Patroklos, zu eiliger Bestattung mahnend. Am Morgen zieht das Myrmidonenheer in Waffen aus, die Leiche in der Mitte führend; die Krieger streuen ihr abgeschnittenes Haupthaar auf die Leiche, zuletzt legt Achill sein eignes Haar dem Freunde in die Hand: einst war es vom Vater dem Fluss- gott Spercheios gelobt, nun soll, da Heimkehr dem Achill doch nicht bescheert ist, es Patroklos mit sich nehmen. Der Scheiter- haufen wird geschichtet, viele Schafe und Rinder geschlachtet, mit deren Fett wird der Leichnam umhüllt, ihre Leiber werden umher gelegt, Krüge voll Honig und Oel um die Leiche ge- stellt. Nun schlachtet man vier Pferde, zwei dem Patroklos gehörige Hunde, zuletzt zwölf, von Achill zu diesem Zwecke
zurückgedrängten Allgemeinansicht gewinnen können. Es gilt nur, die Augen nicht, in vorgefasster Meinung, zu verschliessen vor diesen „Rudimenten“ (survivals nennen sie deutlicher eng- lische Gelehrte) einer abgethanen Culturstufe mitten im Homer.
5.
Es fehlt in den homerischen Gedichten nicht an Rudi- menten eines einst sehr lebhaften Seelencultes. Vor Allem ist hier dessen zu gedenken, was die Ilias von der Behandlung der Leiche des Patroklos erzählt. Man führe sich nur die Hauptzüge dieser Erzählung vor das Gedächtniss. Am Abend des Tages, an dem Hektor erschlagen ist, stimmt Achill mit seinen Myrmidonen die Todtenklage um den Freund an; drei- mal umfahren sie die Leiche, Achill, dem Patroklos die „mör- derischen Hände“ auf die Brust legend, ruft ihm zu: „Gruss dir, mein Patroklos, noch an des Aïdes Wohnung“; was ich dir zuvor gelobt, das wird jetzt alles vollbracht. Hektor liegt erschlagen als Beute der Hunde, und zwölf edle Troerjüng- linge werde ich an deinem Todtenfeuer enthaupten. Nach Ab- legung der Waffen rüstet er den Seinen das Todtenmahl, Stiere, Schafe, Ziegen und Schweine werden geschlachtet, „und rings strömte, mit Bechern zu schöpfen, das Blut um den Leichnam“. — In der Nacht erscheint dem Achill im Traume die Seele des Patroklos, zu eiliger Bestattung mahnend. Am Morgen zieht das Myrmidonenheer in Waffen aus, die Leiche in der Mitte führend; die Krieger streuen ihr abgeschnittenes Haupthaar auf die Leiche, zuletzt legt Achill sein eignes Haar dem Freunde in die Hand: einst war es vom Vater dem Fluss- gott Spercheios gelobt, nun soll, da Heimkehr dem Achill doch nicht bescheert ist, es Patroklos mit sich nehmen. Der Scheiter- haufen wird geschichtet, viele Schafe und Rinder geschlachtet, mit deren Fett wird der Leichnam umhüllt, ihre Leiber werden umher gelegt, Krüge voll Honig und Oel um die Leiche ge- stellt. Nun schlachtet man vier Pferde, zwei dem Patroklos gehörige Hunde, zuletzt zwölf, von Achill zu diesem Zwecke
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0030"n="14"/>
zurückgedrängten Allgemeinansicht gewinnen können. Es gilt<lb/>
nur, die Augen nicht, in vorgefasster Meinung, zu verschliessen<lb/>
vor diesen „Rudimenten“ (<hirendition="#i">survivals</hi> nennen sie deutlicher eng-<lb/>
lische Gelehrte) einer abgethanen Culturstufe mitten im Homer.</p></div><lb/><divn="3"><head>5.</head><lb/><p>Es fehlt in den homerischen Gedichten nicht an Rudi-<lb/>
menten eines einst sehr lebhaften Seelencultes. Vor Allem ist<lb/>
hier dessen zu gedenken, was die Ilias von der Behandlung<lb/>
der Leiche des Patroklos erzählt. Man führe sich nur die<lb/>
Hauptzüge dieser Erzählung vor das Gedächtniss. Am Abend<lb/>
des Tages, an dem Hektor erschlagen ist, stimmt Achill mit<lb/>
seinen Myrmidonen die Todtenklage um den Freund an; drei-<lb/>
mal umfahren sie die Leiche, Achill, dem Patroklos die „mör-<lb/>
derischen Hände“ auf die Brust legend, ruft ihm zu: „Gruss<lb/>
dir, mein Patroklos, noch an des Aïdes Wohnung“; was ich<lb/>
dir zuvor gelobt, das wird jetzt alles vollbracht. Hektor liegt<lb/>
erschlagen als Beute der Hunde, und zwölf edle Troerjüng-<lb/>
linge werde ich an deinem Todtenfeuer enthaupten. Nach Ab-<lb/>
legung der Waffen rüstet er den Seinen das Todtenmahl,<lb/>
Stiere, Schafe, Ziegen und Schweine werden geschlachtet, „und<lb/>
rings strömte, mit Bechern zu schöpfen, das Blut um den<lb/>
Leichnam“. — In der Nacht erscheint dem Achill im Traume<lb/>
die Seele des Patroklos, zu eiliger Bestattung mahnend. Am<lb/>
Morgen zieht das Myrmidonenheer in Waffen aus, die Leiche<lb/>
in der Mitte führend; die Krieger streuen ihr abgeschnittenes<lb/>
Haupthaar auf die Leiche, zuletzt legt Achill sein eignes Haar<lb/>
dem Freunde in die Hand: einst war es vom Vater dem Fluss-<lb/>
gott Spercheios gelobt, nun soll, da Heimkehr dem Achill doch<lb/>
nicht bescheert ist, es Patroklos mit sich nehmen. Der Scheiter-<lb/>
haufen wird geschichtet, viele Schafe und Rinder geschlachtet,<lb/>
mit deren Fett wird der Leichnam umhüllt, ihre Leiber werden<lb/>
umher gelegt, Krüge voll Honig und Oel um die Leiche ge-<lb/>
stellt. Nun schlachtet man vier Pferde, zwei dem Patroklos<lb/>
gehörige Hunde, zuletzt zwölf, von Achill zu diesem Zwecke<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[14/0030]
zurückgedrängten Allgemeinansicht gewinnen können. Es gilt
nur, die Augen nicht, in vorgefasster Meinung, zu verschliessen
vor diesen „Rudimenten“ (survivals nennen sie deutlicher eng-
lische Gelehrte) einer abgethanen Culturstufe mitten im Homer.
5.
Es fehlt in den homerischen Gedichten nicht an Rudi-
menten eines einst sehr lebhaften Seelencultes. Vor Allem ist
hier dessen zu gedenken, was die Ilias von der Behandlung
der Leiche des Patroklos erzählt. Man führe sich nur die
Hauptzüge dieser Erzählung vor das Gedächtniss. Am Abend
des Tages, an dem Hektor erschlagen ist, stimmt Achill mit
seinen Myrmidonen die Todtenklage um den Freund an; drei-
mal umfahren sie die Leiche, Achill, dem Patroklos die „mör-
derischen Hände“ auf die Brust legend, ruft ihm zu: „Gruss
dir, mein Patroklos, noch an des Aïdes Wohnung“; was ich
dir zuvor gelobt, das wird jetzt alles vollbracht. Hektor liegt
erschlagen als Beute der Hunde, und zwölf edle Troerjüng-
linge werde ich an deinem Todtenfeuer enthaupten. Nach Ab-
legung der Waffen rüstet er den Seinen das Todtenmahl,
Stiere, Schafe, Ziegen und Schweine werden geschlachtet, „und
rings strömte, mit Bechern zu schöpfen, das Blut um den
Leichnam“. — In der Nacht erscheint dem Achill im Traume
die Seele des Patroklos, zu eiliger Bestattung mahnend. Am
Morgen zieht das Myrmidonenheer in Waffen aus, die Leiche
in der Mitte führend; die Krieger streuen ihr abgeschnittenes
Haupthaar auf die Leiche, zuletzt legt Achill sein eignes Haar
dem Freunde in die Hand: einst war es vom Vater dem Fluss-
gott Spercheios gelobt, nun soll, da Heimkehr dem Achill doch
nicht bescheert ist, es Patroklos mit sich nehmen. Der Scheiter-
haufen wird geschichtet, viele Schafe und Rinder geschlachtet,
mit deren Fett wird der Leichnam umhüllt, ihre Leiber werden
umher gelegt, Krüge voll Honig und Oel um die Leiche ge-
stellt. Nun schlachtet man vier Pferde, zwei dem Patroklos
gehörige Hunde, zuletzt zwölf, von Achill zu diesem Zwecke
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/30>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.