und nur durch den Reiz des Unerhörten Anziehendes müsste dem homerischen Griechen dieses ganze Treiben, wo es ihm zu- gänglich wurde, entgegengetreten sein. Dennoch -- man weiss es ja -- weckten die enthusiastischen Klänge dieses Gottes- dienstes im Herzen vieler Griechen einen aus tiefem Innern ant- wortenden Widerhall; aus allem Fremdartigen muss ihnen doch ein verwandter Ton entgegengeschlagen sein, der, noch so selt- sam modulirt, zu allgemein menschlicher Empfindung sprechen konnte.
In der That war jener thrakische Begeisterungscult nur eine nach nationaler Besonderheit eigenthümlich gestaltete Kundgebung eines religiösen Triebes, der über die ganze Erde hin überall und immer wieder, auf allen Stufen der Cultur- entwicklung, hervorbricht, und sonach wohl einem tief be- gründeten Bedürfniss menschlicher Natur, physischer und psy- chischer Anlage des Menschen, entstammen muss. Der mehr als menschlichen Lebensmacht, die er um und über sich walten und bis in sein eigenes persönliches Leben hinein sich aus- breiten fühlt, möchte in Stunden höchster Erhebung der Mensch nicht, wie sonst wohl, scheu anbetend, in sein eigenes Sonder- dasein eingeschlossen, sich gegenüberstellen, sondern in in- brünstigem Ueberschwang, alle Schranken durchbrechend, zu voller Vereinigung sich ans Herz werfen. Die Menschheit brauchte nicht zu warten, bis das Wunderkind des Gedankens und der Phantasie, der Pantheismus, ihr heranwuchs, um diesen Drang, auf Momente das eigene Leben in dem der Gottheit zu verlieren, empfinden zu können. Es giebt ganze Völker- stämme die, sonst in keiner Weise zu den bevorzugten Mit- gliedern der Menschenfamilie gehörig, in besonderem Maasse die Neigung und die Gabe einer Steigerung des Bewusstseins ins Ueberpersönliche haben, einen Hang und Drang zu Ver- zückungen und visionären Zuständen, deren reizvolle und schreckliche Einbildungen sie als thatsächliche reale Erfah- rungen aus einer anderen Welt nehmen, in welche ihre "Seelen" auf kurze Zeit versetzt worden seien. Und es fehlt in allen
und nur durch den Reiz des Unerhörten Anziehendes müsste dem homerischen Griechen dieses ganze Treiben, wo es ihm zu- gänglich wurde, entgegengetreten sein. Dennoch — man weiss es ja — weckten die enthusiastischen Klänge dieses Gottes- dienstes im Herzen vieler Griechen einen aus tiefem Innern ant- wortenden Widerhall; aus allem Fremdartigen muss ihnen doch ein verwandter Ton entgegengeschlagen sein, der, noch so selt- sam modulirt, zu allgemein menschlicher Empfindung sprechen konnte.
In der That war jener thrakische Begeisterungscult nur eine nach nationaler Besonderheit eigenthümlich gestaltete Kundgebung eines religiösen Triebes, der über die ganze Erde hin überall und immer wieder, auf allen Stufen der Cultur- entwicklung, hervorbricht, und sonach wohl einem tief be- gründeten Bedürfniss menschlicher Natur, physischer und psy- chischer Anlage des Menschen, entstammen muss. Der mehr als menschlichen Lebensmacht, die er um und über sich walten und bis in sein eigenes persönliches Leben hinein sich aus- breiten fühlt, möchte in Stunden höchster Erhebung der Mensch nicht, wie sonst wohl, scheu anbetend, in sein eigenes Sonder- dasein eingeschlossen, sich gegenüberstellen, sondern in in- brünstigem Ueberschwang, alle Schranken durchbrechend, zu voller Vereinigung sich ans Herz werfen. Die Menschheit brauchte nicht zu warten, bis das Wunderkind des Gedankens und der Phantasie, der Pantheismus, ihr heranwuchs, um diesen Drang, auf Momente das eigene Leben in dem der Gottheit zu verlieren, empfinden zu können. Es giebt ganze Völker- stämme die, sonst in keiner Weise zu den bevorzugten Mit- gliedern der Menschenfamilie gehörig, in besonderem Maasse die Neigung und die Gabe einer Steigerung des Bewusstseins ins Ueberpersönliche haben, einen Hang und Drang zu Ver- zückungen und visionären Zuständen, deren reizvolle und schreckliche Einbildungen sie als thatsächliche reale Erfah- rungen aus einer anderen Welt nehmen, in welche ihre „Seelen“ auf kurze Zeit versetzt worden seien. Und es fehlt in allen
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0331"n="315"/>
und nur durch den Reiz des Unerhörten Anziehendes müsste<lb/>
dem homerischen Griechen dieses ganze Treiben, wo es ihm zu-<lb/>
gänglich wurde, entgegengetreten sein. Dennoch — man weiss<lb/>
es ja — weckten die enthusiastischen Klänge dieses Gottes-<lb/>
dienstes im Herzen vieler Griechen einen aus tiefem Innern ant-<lb/>
wortenden Widerhall; aus allem Fremdartigen muss ihnen doch<lb/>
ein verwandter Ton entgegengeschlagen sein, der, noch so selt-<lb/>
sam modulirt, zu allgemein menschlicher Empfindung sprechen<lb/>
konnte.</p><lb/><p>In der That war jener thrakische Begeisterungscult nur<lb/>
eine nach nationaler Besonderheit eigenthümlich gestaltete<lb/>
Kundgebung eines religiösen Triebes, der über die ganze Erde<lb/>
hin überall und immer wieder, auf allen Stufen der Cultur-<lb/>
entwicklung, hervorbricht, und sonach wohl einem tief be-<lb/>
gründeten Bedürfniss menschlicher Natur, physischer und psy-<lb/>
chischer Anlage des Menschen, entstammen muss. Der mehr<lb/>
als menschlichen Lebensmacht, die er um und über sich walten<lb/>
und bis in sein eigenes persönliches Leben hinein sich aus-<lb/>
breiten fühlt, möchte in Stunden höchster Erhebung der Mensch<lb/>
nicht, wie sonst wohl, scheu anbetend, in sein eigenes Sonder-<lb/>
dasein eingeschlossen, sich gegenüberstellen, sondern in in-<lb/>
brünstigem Ueberschwang, alle Schranken durchbrechend, zu<lb/>
voller Vereinigung sich ans Herz werfen. Die Menschheit<lb/>
brauchte nicht zu warten, bis das Wunderkind des Gedankens<lb/>
und der Phantasie, der Pantheismus, ihr heranwuchs, um diesen<lb/>
Drang, auf Momente das eigene Leben in dem der Gottheit<lb/>
zu verlieren, empfinden zu können. Es giebt ganze Völker-<lb/>
stämme die, sonst in keiner Weise zu den bevorzugten Mit-<lb/>
gliedern der Menschenfamilie gehörig, in besonderem Maasse<lb/>
die Neigung und die Gabe einer Steigerung des Bewusstseins<lb/>
ins Ueberpersönliche haben, einen Hang und Drang zu Ver-<lb/>
zückungen und visionären Zuständen, deren reizvolle und<lb/>
schreckliche Einbildungen sie als thatsächliche reale Erfah-<lb/>
rungen aus einer anderen Welt nehmen, in welche ihre „Seelen“<lb/>
auf kurze Zeit versetzt worden seien. Und es fehlt in allen<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[315/0331]
und nur durch den Reiz des Unerhörten Anziehendes müsste
dem homerischen Griechen dieses ganze Treiben, wo es ihm zu-
gänglich wurde, entgegengetreten sein. Dennoch — man weiss
es ja — weckten die enthusiastischen Klänge dieses Gottes-
dienstes im Herzen vieler Griechen einen aus tiefem Innern ant-
wortenden Widerhall; aus allem Fremdartigen muss ihnen doch
ein verwandter Ton entgegengeschlagen sein, der, noch so selt-
sam modulirt, zu allgemein menschlicher Empfindung sprechen
konnte.
In der That war jener thrakische Begeisterungscult nur
eine nach nationaler Besonderheit eigenthümlich gestaltete
Kundgebung eines religiösen Triebes, der über die ganze Erde
hin überall und immer wieder, auf allen Stufen der Cultur-
entwicklung, hervorbricht, und sonach wohl einem tief be-
gründeten Bedürfniss menschlicher Natur, physischer und psy-
chischer Anlage des Menschen, entstammen muss. Der mehr
als menschlichen Lebensmacht, die er um und über sich walten
und bis in sein eigenes persönliches Leben hinein sich aus-
breiten fühlt, möchte in Stunden höchster Erhebung der Mensch
nicht, wie sonst wohl, scheu anbetend, in sein eigenes Sonder-
dasein eingeschlossen, sich gegenüberstellen, sondern in in-
brünstigem Ueberschwang, alle Schranken durchbrechend, zu
voller Vereinigung sich ans Herz werfen. Die Menschheit
brauchte nicht zu warten, bis das Wunderkind des Gedankens
und der Phantasie, der Pantheismus, ihr heranwuchs, um diesen
Drang, auf Momente das eigene Leben in dem der Gottheit
zu verlieren, empfinden zu können. Es giebt ganze Völker-
stämme die, sonst in keiner Weise zu den bevorzugten Mit-
gliedern der Menschenfamilie gehörig, in besonderem Maasse
die Neigung und die Gabe einer Steigerung des Bewusstseins
ins Ueberpersönliche haben, einen Hang und Drang zu Ver-
zückungen und visionären Zuständen, deren reizvolle und
schreckliche Einbildungen sie als thatsächliche reale Erfah-
rungen aus einer anderen Welt nehmen, in welche ihre „Seelen“
auf kurze Zeit versetzt worden seien. Und es fehlt in allen
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 315. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/331>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.