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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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Diese delphische Inspirationsmantik steht von der alten
apollinischen Zeichendeutungskunst eben so weit ab, wie sie
der Weise der Mantik, die wir mit dem thrakischen Dionysos-
cult seit Alters verbunden fanden 1), nahekommt. In Griechen-
land hat Dionysos, wie es scheint, kaum hie und da eine
Priesterschaft gefunden, die ein bleibend an einen bestimmten
Ort und Tempel gebundenes Weissagungsinstitut errichtet und
unterhalten hätte. An dem einzigen dionysischen Orakel in
Griechenland aber, von dem wir sicher wissen, weissagte im
Enthusiasmus ein von dem Gotte "besessener" Priester 2).
Enthusiasmus und Ekstase sind überall die erregenden Mächte,
wie aller religiösen Empfindung in dionysischem Cult, so auch
der Weissagung aus Dionysos. Wenn wir nun den Apollo
gerade in Delphi, an der Stätte seiner innigsten Verbindung
mit Dionys, seiner alten Art der Wahrsagung durch Zeichen-
deutung untreu geworden, sich der Weissagung in der Ek-
stase zuwenden sehen, so werden wir nicht im Zweifel darüber
sein, woher Apollo diese ihm neue Weise entlehnt hat 3).

Mit der mantischen Ekstase nimmt Apollo selbst in seine
Religion ein dionysisches Element auf. Von nun an kann er,

1) S. oben p. 313 f.
2) Zu Amphikleia in Phokis ein Orakel des Dionysos: promantis de
o iereus esti, khra de ek tou theou katokhos Paus. 10, 33, 11. -- Wohl auf
Griechenland bezieht sich das Wort des Cornutus c. 30 p. 59, 20 (Lang):
kai manteia esth opou tou Dionusou ekhontos --. Plutarch. Sympos. 7, 10, 2
p. 716 B: oi palaioi ton theon (Dionysos) mantikes pollen ekhein egounto
moiran.
3) Dionysos erster Orakelspender in Delphi: Schol. Pind. argum.
Pyth.
p. 297 (s. oben p. 342,1.). -- Dass in Delphi Apollo Erbe der
Mantik des Dionysos sei, nimmt auch Voigt, Mythol. Lex. 1, 1033/34
an, aber er setzt Dionys dem von Apoll verdrängten und erlegten Python
gleich, was sich schwerlich rechtfertigen lässt. Ich meine, dass nach
Verdrängung des chthonischen (Traum-)Orakels Apollo aus dionysischer
Mantik die ihm früher unbekannte Wahrsagung im furor divinus über-
nahm. -- Einen völlig klaren und gewissen Einblick in die Verschiebungen
und Verschlingungen wechselnder Potenzen und Einflüsse gewinnen zu
können, aus denen zuletzt die Herrschaft des mannichfaltig zusammen-
gesetzten apollinischen Cultes an dem viel umstrittenen Mittelpunkt grie-
chischer Religion hervorging -- das wird Niemand sich zutrauen dürfen.

Diese delphische Inspirationsmantik steht von der alten
apollinischen Zeichendeutungskunst eben so weit ab, wie sie
der Weise der Mantik, die wir mit dem thrakischen Dionysos-
cult seit Alters verbunden fanden 1), nahekommt. In Griechen-
land hat Dionysos, wie es scheint, kaum hie und da eine
Priesterschaft gefunden, die ein bleibend an einen bestimmten
Ort und Tempel gebundenes Weissagungsinstitut errichtet und
unterhalten hätte. An dem einzigen dionysischen Orakel in
Griechenland aber, von dem wir sicher wissen, weissagte im
Enthusiasmus ein von dem Gotte „besessener“ Priester 2).
Enthusiasmus und Ekstase sind überall die erregenden Mächte,
wie aller religiösen Empfindung in dionysischem Cult, so auch
der Weissagung aus Dionysos. Wenn wir nun den Apollo
gerade in Delphi, an der Stätte seiner innigsten Verbindung
mit Dionys, seiner alten Art der Wahrsagung durch Zeichen-
deutung untreu geworden, sich der Weissagung in der Ek-
stase zuwenden sehen, so werden wir nicht im Zweifel darüber
sein, woher Apollo diese ihm neue Weise entlehnt hat 3).

Mit der mantischen Ekstase nimmt Apollo selbst in seine
Religion ein dionysisches Element auf. Von nun an kann er,

1) S. oben p. 313 f.
2) Zu Amphikleia in Phokis ein Orakel des Dionysos: πρόμαντις δὲ
ὁ ἱερεύς ἐστι, χρᾷ δὲ ἐκ τοῦ ϑεοῦ κάτοχος Paus. 10, 33, 11. — Wohl auf
Griechenland bezieht sich das Wort des Cornutus c. 30 p. 59, 20 (Lang):
καὶ μαντεῖα ἔσϑ̛ ὅπου τοῦ Διονύσου ἔχοντος —. Plutarch. Sympos. 7, 10, 2
p. 716 B: οἱ παλαιοὶ τὸν ϑεὸν (Dionysos) μαντικῆς πολλὴν ἔχειν ἡγοῦντο
μοῖραν.
3) Dionysos erster Orakelspender in Delphi: Schol. Pind. argum.
Pyth.
p. 297 (s. oben p. 342,1.). — Dass in Delphi Apollo Erbe der
Mantik des Dionysos sei, nimmt auch Voigt, Mythol. Lex. 1, 1033/34
an, aber er setzt Dionys dem von Apoll verdrängten und erlegten Python
gleich, was sich schwerlich rechtfertigen lässt. Ich meine, dass nach
Verdrängung des chthonischen (Traum-)Orakels Apollo aus dionysischer
Mantik die ihm früher unbekannte Wahrsagung im furor divinus über-
nahm. — Einen völlig klaren und gewissen Einblick in die Verschiebungen
und Verschlingungen wechselnder Potenzen und Einflüsse gewinnen zu
können, aus denen zuletzt die Herrschaft des mannichfaltig zusammen-
gesetzten apollinischen Cultes an dem viel umstrittenen Mittelpunkt grie-
chischer Religion hervorging — das wird Niemand sich zutrauen dürfen.
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[347/0363] Diese delphische Inspirationsmantik steht von der alten apollinischen Zeichendeutungskunst eben so weit ab, wie sie der Weise der Mantik, die wir mit dem thrakischen Dionysos- cult seit Alters verbunden fanden 1), nahekommt. In Griechen- land hat Dionysos, wie es scheint, kaum hie und da eine Priesterschaft gefunden, die ein bleibend an einen bestimmten Ort und Tempel gebundenes Weissagungsinstitut errichtet und unterhalten hätte. An dem einzigen dionysischen Orakel in Griechenland aber, von dem wir sicher wissen, weissagte im Enthusiasmus ein von dem Gotte „besessener“ Priester 2). Enthusiasmus und Ekstase sind überall die erregenden Mächte, wie aller religiösen Empfindung in dionysischem Cult, so auch der Weissagung aus Dionysos. Wenn wir nun den Apollo gerade in Delphi, an der Stätte seiner innigsten Verbindung mit Dionys, seiner alten Art der Wahrsagung durch Zeichen- deutung untreu geworden, sich der Weissagung in der Ek- stase zuwenden sehen, so werden wir nicht im Zweifel darüber sein, woher Apollo diese ihm neue Weise entlehnt hat 3). Mit der mantischen Ekstase nimmt Apollo selbst in seine Religion ein dionysisches Element auf. Von nun an kann er, 1) S. oben p. 313 f. 2) Zu Amphikleia in Phokis ein Orakel des Dionysos: πρόμαντις δὲ ὁ ἱερεύς ἐστι, χρᾷ δὲ ἐκ τοῦ ϑεοῦ κάτοχος Paus. 10, 33, 11. — Wohl auf Griechenland bezieht sich das Wort des Cornutus c. 30 p. 59, 20 (Lang): καὶ μαντεῖα ἔσϑ̛ ὅπου τοῦ Διονύσου ἔχοντος —. Plutarch. Sympos. 7, 10, 2 p. 716 B: οἱ παλαιοὶ τὸν ϑεὸν (Dionysos) μαντικῆς πολλὴν ἔχειν ἡγοῦντο μοῖραν. 3) Dionysos erster Orakelspender in Delphi: Schol. Pind. argum. Pyth. p. 297 (s. oben p. 342,1.). — Dass in Delphi Apollo Erbe der Mantik des Dionysos sei, nimmt auch Voigt, Mythol. Lex. 1, 1033/34 an, aber er setzt Dionys dem von Apoll verdrängten und erlegten Python gleich, was sich schwerlich rechtfertigen lässt. Ich meine, dass nach Verdrängung des chthonischen (Traum-)Orakels Apollo aus dionysischer Mantik die ihm früher unbekannte Wahrsagung im furor divinus über- nahm. — Einen völlig klaren und gewissen Einblick in die Verschiebungen und Verschlingungen wechselnder Potenzen und Einflüsse gewinnen zu können, aus denen zuletzt die Herrschaft des mannichfaltig zusammen- gesetzten apollinischen Cultes an dem viel umstrittenen Mittelpunkt grie- chischer Religion hervorging — das wird Niemand sich zutrauen dürfen.

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 347. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/363>, abgerufen am 22.11.2024.