Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

Bild:
<< vorherige Seite

merken, welche Einwirkungen eigentlich die Kathartik ab-
zuwenden strebt. Nicht einem im Herzen sich regenden Schuld-
bewusstsein, einer empfindlicher gewordenen Sittlichkeit hatte
sie genug zu thun; vielmehr war es abergläubische Angst vor
einer unheimlich die Menschen umschwebenden und mit tau-
send Händen drohend aus dem Dunkel nach ihnen langenden
Geisterwelt, die den Reiniger und Sühnepriester um Hilfe und
Abwehr der eigenen Phantasieschreckbilder anrief.

6.

Es sind die "Unholden" der Dämonenwelt griechischen
Glaubens, deren Eingriffe in menschliches Leben der hell-
sichtige Mantis durch seine "Reinigungen" abwehren will.
Unter ihnen wird besonders kenntlich Hekate mit ihrem
Schwarm. Eine alte Schöpfung religiöser Phantasie, ohne
Zweifel, gleichwohl in den homerischen Gedichten nie erwähnt,
spät erst von örtlich beschränkter Verehrung zu allgemeiner
Anerkennung, nur an einzelnen Orten über häuslichen und
privaten Cult zu der Feier im öffentlichen Gottesdienst der
Städte vorgedrungen 1). Ihr Dienst scheut das Licht, wie der
ganze Wust unheimlicher Wahnvorstellungen, der ihn umrankt.

die katharmata auf den Dreiwegen hingeschüttet wurden, ist auch daran be-
merkbar, dass man sie ametastrepti hinschütten musste (s. unten p. 376, 3).
Auch in der Sitte der Argiver, die katharmata in den lernäischen See zu
werfen (Zenob. 4, 86; Diogenian. 6, 7; Hesych. s. Lerne theaton) ist aus-
gedrückt, dass diese kathartischen Mittel eine Opfergabe für die Geister
der Tiefe sein sollten: denn durch den lernäischen See führt ein Weg in
die Unterwelt (s. oben p. 305, 1).
1) Jährliche telete der Hekate auf Aegina, angeblich von Orpheus
gestiftet; dort war Hekate und ihre katharmoi hülfreich gegen Wahnsinn
(den sie abwendet, wie sie ihn senden kann). Arist. Vesp. 122. S. Lobeck
Agl. 242. Die Weihe erhielt sich bis ins dritte Jahrh. n. Ch. -- Pausanias
erwähnt sonst nur noch einen Tempel der Hekate in Argos: 2, 22, 7. --
Stadtgöttin war Hekate in Stratonikea (Tac. ann. 3, 20, Strabo 14, 660)
und (wie aus Inschr. bekannt) in andern Städten Kariens. Möglicher
Weise ist H. dort nur griechische Benennung einer einheimischen Gott-
heit. Aber griechisch war doch wohl der alte Cult der khthonioi auf dem
Triopium bei Knidos (Böckh ad Schol. Pind. p. 314 f. C. I. Gr. I p. 45).

merken, welche Einwirkungen eigentlich die Kathartik ab-
zuwenden strebt. Nicht einem im Herzen sich regenden Schuld-
bewusstsein, einer empfindlicher gewordenen Sittlichkeit hatte
sie genug zu thun; vielmehr war es abergläubische Angst vor
einer unheimlich die Menschen umschwebenden und mit tau-
send Händen drohend aus dem Dunkel nach ihnen langenden
Geisterwelt, die den Reiniger und Sühnepriester um Hilfe und
Abwehr der eigenen Phantasieschreckbilder anrief.

6.

Es sind die „Unholden“ der Dämonenwelt griechischen
Glaubens, deren Eingriffe in menschliches Leben der hell-
sichtige Mantis durch seine „Reinigungen“ abwehren will.
Unter ihnen wird besonders kenntlich Hekate mit ihrem
Schwarm. Eine alte Schöpfung religiöser Phantasie, ohne
Zweifel, gleichwohl in den homerischen Gedichten nie erwähnt,
spät erst von örtlich beschränkter Verehrung zu allgemeiner
Anerkennung, nur an einzelnen Orten über häuslichen und
privaten Cult zu der Feier im öffentlichen Gottesdienst der
Städte vorgedrungen 1). Ihr Dienst scheut das Licht, wie der
ganze Wust unheimlicher Wahnvorstellungen, der ihn umrankt.

die καϑάρματα auf den Dreiwegen hingeschüttet wurden, ist auch daran be-
merkbar, dass man sie ἀμεταστρεπτί hinschütten musste (s. unten p. 376, 3).
Auch in der Sitte der Argiver, die καϑάρματα in den lernäischen See zu
werfen (Zenob. 4, 86; Diogenian. 6, 7; Hesych. s. Λέρνη ϑεατῶν) ist aus-
gedrückt, dass diese kathartischen Mittel eine Opfergabe für die Geister
der Tiefe sein sollten: denn durch den lernäischen See führt ein Weg in
die Unterwelt (s. oben p. 305, 1).
1) Jährliche τελετή der Hekate auf Aegina, angeblich von Orpheus
gestiftet; dort war Hekate und ihre καϑαρμοί hülfreich gegen Wahnsinn
(den sie abwendet, wie sie ihn senden kann). Arist. Vesp. 122. S. Lobeck
Agl. 242. Die Weihe erhielt sich bis ins dritte Jahrh. n. Ch. — Pausanias
erwähnt sonst nur noch einen Tempel der Hekate in Argos: 2, 22, 7. —
Stadtgöttin war Hekate in Stratonikea (Tac. ann. 3, 20, Strabo 14, 660)
und (wie aus Inschr. bekannt) in andern Städten Kariens. Möglicher
Weise ist H. dort nur griechische Benennung einer einheimischen Gott-
heit. Aber griechisch war doch wohl der alte Cult der χϑόνιοι auf dem
Triopium bei Knidos (Böckh ad Schol. Pind. p. 314 f. C. I. Gr. I p. 45).
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0384" n="368"/>
merken, welche Einwirkungen eigentlich die Kathartik ab-<lb/>
zuwenden strebt. Nicht einem im Herzen sich regenden Schuld-<lb/>
bewusstsein, einer empfindlicher gewordenen Sittlichkeit hatte<lb/>
sie genug zu thun; vielmehr war es abergläubische Angst vor<lb/>
einer unheimlich die Menschen umschwebenden und mit tau-<lb/>
send Händen drohend aus dem Dunkel nach ihnen langenden<lb/>
Geisterwelt, die den Reiniger und Sühnepriester um Hilfe und<lb/>
Abwehr der eigenen Phantasieschreckbilder anrief.</p>
        </div><lb/>
        <div n="2">
          <head>6.</head><lb/>
          <p>Es sind die &#x201E;Unholden&#x201C; der Dämonenwelt griechischen<lb/>
Glaubens, deren Eingriffe in menschliches Leben der hell-<lb/>
sichtige Mantis durch seine &#x201E;Reinigungen&#x201C; abwehren will.<lb/>
Unter ihnen wird besonders kenntlich <hi rendition="#g">Hekate</hi> mit ihrem<lb/>
Schwarm. Eine alte Schöpfung religiöser Phantasie, ohne<lb/>
Zweifel, gleichwohl in den homerischen Gedichten nie erwähnt,<lb/>
spät erst von örtlich beschränkter Verehrung zu allgemeiner<lb/>
Anerkennung, nur an einzelnen Orten über häuslichen und<lb/>
privaten Cult zu der Feier im öffentlichen Gottesdienst der<lb/>
Städte vorgedrungen <note place="foot" n="1)">Jährliche &#x03C4;&#x03B5;&#x03BB;&#x03B5;&#x03C4;&#x03AE; der Hekate auf Aegina, angeblich von Orpheus<lb/>
gestiftet; dort war Hekate und ihre &#x03BA;&#x03B1;&#x03D1;&#x03B1;&#x03C1;&#x03BC;&#x03BF;&#x03AF; hülfreich gegen Wahnsinn<lb/>
(den sie abwendet, wie sie ihn senden kann). Arist. <hi rendition="#i">Vesp</hi>. 122. S. Lobeck<lb/><hi rendition="#i">Agl</hi>. 242. Die Weihe erhielt sich bis ins dritte Jahrh. n. Ch. &#x2014; Pausanias<lb/>
erwähnt sonst nur noch einen Tempel der Hekate in Argos: 2, 22, 7. &#x2014;<lb/>
Stadtgöttin war Hekate in Stratonikea (Tac. <hi rendition="#i">ann</hi>. 3, 20, Strabo 14, 660)<lb/>
und (wie aus Inschr. bekannt) in andern Städten Kariens. Möglicher<lb/>
Weise ist H. dort nur griechische Benennung einer einheimischen Gott-<lb/>
heit. Aber griechisch war doch wohl der alte Cult der &#x03C7;&#x03D1;&#x03CC;&#x03BD;&#x03B9;&#x03BF;&#x03B9; auf dem<lb/>
Triopium bei Knidos (Böckh ad <hi rendition="#i">Schol. Pind</hi>. p. 314 f. <hi rendition="#i">C. I. Gr</hi>. I p. 45).</note>. Ihr Dienst scheut das Licht, wie der<lb/>
ganze Wust unheimlicher Wahnvorstellungen, der ihn umrankt.<lb/><note xml:id="seg2pn_124_2" prev="#seg2pn_124_1" place="foot" n="1)">die &#x03BA;&#x03B1;&#x03D1;&#x03AC;&#x03C1;&#x03BC;&#x03B1;&#x03C4;&#x03B1; auf den Dreiwegen hingeschüttet wurden, ist auch daran be-<lb/>
merkbar, dass man sie &#x1F00;&#x03BC;&#x03B5;&#x03C4;&#x03B1;&#x03C3;&#x03C4;&#x03C1;&#x03B5;&#x03C0;&#x03C4;&#x03AF; hinschütten musste (s. unten p. 376, 3).<lb/>
Auch in der Sitte der Argiver, die &#x03BA;&#x03B1;&#x03D1;&#x03AC;&#x03C1;&#x03BC;&#x03B1;&#x03C4;&#x03B1; in den lernäischen See zu<lb/>
werfen (Zenob. 4, 86; Diogenian. 6, 7; Hesych. s. &#x039B;&#x03AD;&#x03C1;&#x03BD;&#x03B7; &#x03D1;&#x03B5;&#x03B1;&#x03C4;&#x1FF6;&#x03BD;) ist aus-<lb/>
gedrückt, dass diese kathartischen Mittel eine Opfergabe für die Geister<lb/>
der Tiefe sein sollten: denn durch den lernäischen See führt ein Weg in<lb/>
die Unterwelt (s. oben p. 305, 1).</note><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[368/0384] merken, welche Einwirkungen eigentlich die Kathartik ab- zuwenden strebt. Nicht einem im Herzen sich regenden Schuld- bewusstsein, einer empfindlicher gewordenen Sittlichkeit hatte sie genug zu thun; vielmehr war es abergläubische Angst vor einer unheimlich die Menschen umschwebenden und mit tau- send Händen drohend aus dem Dunkel nach ihnen langenden Geisterwelt, die den Reiniger und Sühnepriester um Hilfe und Abwehr der eigenen Phantasieschreckbilder anrief. 6. Es sind die „Unholden“ der Dämonenwelt griechischen Glaubens, deren Eingriffe in menschliches Leben der hell- sichtige Mantis durch seine „Reinigungen“ abwehren will. Unter ihnen wird besonders kenntlich Hekate mit ihrem Schwarm. Eine alte Schöpfung religiöser Phantasie, ohne Zweifel, gleichwohl in den homerischen Gedichten nie erwähnt, spät erst von örtlich beschränkter Verehrung zu allgemeiner Anerkennung, nur an einzelnen Orten über häuslichen und privaten Cult zu der Feier im öffentlichen Gottesdienst der Städte vorgedrungen 1). Ihr Dienst scheut das Licht, wie der ganze Wust unheimlicher Wahnvorstellungen, der ihn umrankt. 1) 1) Jährliche τελετή der Hekate auf Aegina, angeblich von Orpheus gestiftet; dort war Hekate und ihre καϑαρμοί hülfreich gegen Wahnsinn (den sie abwendet, wie sie ihn senden kann). Arist. Vesp. 122. S. Lobeck Agl. 242. Die Weihe erhielt sich bis ins dritte Jahrh. n. Ch. — Pausanias erwähnt sonst nur noch einen Tempel der Hekate in Argos: 2, 22, 7. — Stadtgöttin war Hekate in Stratonikea (Tac. ann. 3, 20, Strabo 14, 660) und (wie aus Inschr. bekannt) in andern Städten Kariens. Möglicher Weise ist H. dort nur griechische Benennung einer einheimischen Gott- heit. Aber griechisch war doch wohl der alte Cult der χϑόνιοι auf dem Triopium bei Knidos (Böckh ad Schol. Pind. p. 314 f. C. I. Gr. I p. 45). 1) die καϑάρματα auf den Dreiwegen hingeschüttet wurden, ist auch daran be- merkbar, dass man sie ἀμεταστρεπτί hinschütten musste (s. unten p. 376, 3). Auch in der Sitte der Argiver, die καϑάρματα in den lernäischen See zu werfen (Zenob. 4, 86; Diogenian. 6, 7; Hesych. s. Λέρνη ϑεατῶν) ist aus- gedrückt, dass diese kathartischen Mittel eine Opfergabe für die Geister der Tiefe sein sollten: denn durch den lernäischen See führt ein Weg in die Unterwelt (s. oben p. 305, 1).

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/384
Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 368. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/384>, abgerufen am 22.11.2024.