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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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deutlich die Wahrnehmung erläutern, dass eine philosophirende
Naturwissenschaft für sich allein zu einer Bekräftigung des
Axioms der Fortdauer oder gar Unvergänglichkeit der indivi-
duellen "Seele" nach ihrer Trennung vom Leibe nicht führen
konnte. Wem die Behauptung dieses Axioms ein Bedürfniss
blieb, der konnte ihm eine Stütze nur dadurch geben, dass er
die Physiologie durch theologische Speculation verdrängte,
oder, wie es Empedokles versuchte, ergänzte.

Dieser Versuch, das Unvereinbare zu vereinigen, der auch
in den Kreisen, die einer wissenschaftlichen Betrachtung zu-
gänglich waren, wenig Anhänger gefunden haben kann, war
nicht geeignet, die physiologische Philosophie von ihren bis
dahin verfolgten Bahnen abzulenken. Bald nach Empedokles,
und in den Grundgedanken kaum beeinflusst durch ihn, ent-
wickelten Anaxagoras und Demokrit ihre Lehrsysteme, in denen
die selbständige ionische Denkarbeit ihre letzten Blüthen trieb.
Demokrit, der Begründer und Vollender der Atomenlehre,
nach der es "in Wirklichkeit" nur die untheilbaren kleinsten,
qualitativ nicht gesonderten, aber nach Gestalt, Lage und Ord-
nung im Raume, auch nach Grösse und Gewicht verschiede-
nen materiellen Körper, und den leeren Raum giebt, musste
auch die "Seele", die gerade dem Materialisten leicht als ein sub-
stantiell für sich bestehendes Eigending erscheinen mag, unter
jenen kleinsten Körpern suchen, aus denen sich alle Gebilde der
Erscheinungswelt zusammensetzen. Die Seele ist das, was den
aus eigener Kraft nicht bewegbaren Körpermassen die Bewegung
verleiht. Sie besteht aus den runden und glatten Atomen,
welche in der allgemeinen Unruhe, die alle Atome umtreibt,
die beweglichsten, weil der Ortsveränderung den wenigsten
Widerstand entgegensetzenden, überall am leichtesten eindrin-
genden sind. Diese Atome bilden das Feuer und die Seele.
Zwischen je zwei andere Atome eingeschaltet 1), ist es das
Seelenatom, welches diesen seine Bewegung mittheilt; und so

1) Lucret. 3, 370--373.
Rohde, Seelencult. 31

deutlich die Wahrnehmung erläutern, dass eine philosophirende
Naturwissenschaft für sich allein zu einer Bekräftigung des
Axioms der Fortdauer oder gar Unvergänglichkeit der indivi-
duellen „Seele“ nach ihrer Trennung vom Leibe nicht führen
konnte. Wem die Behauptung dieses Axioms ein Bedürfniss
blieb, der konnte ihm eine Stütze nur dadurch geben, dass er
die Physiologie durch theologische Speculation verdrängte,
oder, wie es Empedokles versuchte, ergänzte.

Dieser Versuch, das Unvereinbare zu vereinigen, der auch
in den Kreisen, die einer wissenschaftlichen Betrachtung zu-
gänglich waren, wenig Anhänger gefunden haben kann, war
nicht geeignet, die physiologische Philosophie von ihren bis
dahin verfolgten Bahnen abzulenken. Bald nach Empedokles,
und in den Grundgedanken kaum beeinflusst durch ihn, ent-
wickelten Anaxagoras und Demokrit ihre Lehrsysteme, in denen
die selbständige ionische Denkarbeit ihre letzten Blüthen trieb.
Demokrit, der Begründer und Vollender der Atomenlehre,
nach der es „in Wirklichkeit“ nur die untheilbaren kleinsten,
qualitativ nicht gesonderten, aber nach Gestalt, Lage und Ord-
nung im Raume, auch nach Grösse und Gewicht verschiede-
nen materiellen Körper, und den leeren Raum giebt, musste
auch die „Seele“, die gerade dem Materialisten leicht als ein sub-
stantiell für sich bestehendes Eigending erscheinen mag, unter
jenen kleinsten Körpern suchen, aus denen sich alle Gebilde der
Erscheinungswelt zusammensetzen. Die Seele ist das, was den
aus eigener Kraft nicht bewegbaren Körpermassen die Bewegung
verleiht. Sie besteht aus den runden und glatten Atomen,
welche in der allgemeinen Unruhe, die alle Atome umtreibt,
die beweglichsten, weil der Ortsveränderung den wenigsten
Widerstand entgegensetzenden, überall am leichtesten eindrin-
genden sind. Diese Atome bilden das Feuer und die Seele.
Zwischen je zwei andere Atome eingeschaltet 1), ist es das
Seelenatom, welches diesen seine Bewegung mittheilt; und so

1) Lucret. 3, 370—373.
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[481/0497] deutlich die Wahrnehmung erläutern, dass eine philosophirende Naturwissenschaft für sich allein zu einer Bekräftigung des Axioms der Fortdauer oder gar Unvergänglichkeit der indivi- duellen „Seele“ nach ihrer Trennung vom Leibe nicht führen konnte. Wem die Behauptung dieses Axioms ein Bedürfniss blieb, der konnte ihm eine Stütze nur dadurch geben, dass er die Physiologie durch theologische Speculation verdrängte, oder, wie es Empedokles versuchte, ergänzte. Dieser Versuch, das Unvereinbare zu vereinigen, der auch in den Kreisen, die einer wissenschaftlichen Betrachtung zu- gänglich waren, wenig Anhänger gefunden haben kann, war nicht geeignet, die physiologische Philosophie von ihren bis dahin verfolgten Bahnen abzulenken. Bald nach Empedokles, und in den Grundgedanken kaum beeinflusst durch ihn, ent- wickelten Anaxagoras und Demokrit ihre Lehrsysteme, in denen die selbständige ionische Denkarbeit ihre letzten Blüthen trieb. Demokrit, der Begründer und Vollender der Atomenlehre, nach der es „in Wirklichkeit“ nur die untheilbaren kleinsten, qualitativ nicht gesonderten, aber nach Gestalt, Lage und Ord- nung im Raume, auch nach Grösse und Gewicht verschiede- nen materiellen Körper, und den leeren Raum giebt, musste auch die „Seele“, die gerade dem Materialisten leicht als ein sub- stantiell für sich bestehendes Eigending erscheinen mag, unter jenen kleinsten Körpern suchen, aus denen sich alle Gebilde der Erscheinungswelt zusammensetzen. Die Seele ist das, was den aus eigener Kraft nicht bewegbaren Körpermassen die Bewegung verleiht. Sie besteht aus den runden und glatten Atomen, welche in der allgemeinen Unruhe, die alle Atome umtreibt, die beweglichsten, weil der Ortsveränderung den wenigsten Widerstand entgegensetzenden, überall am leichtesten eindrin- genden sind. Diese Atome bilden das Feuer und die Seele. Zwischen je zwei andere Atome eingeschaltet 1), ist es das Seelenatom, welches diesen seine Bewegung mittheilt; und so 1) Lucret. 3, 370—373. Rohde, Seelencult. 31

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 481. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/497>, abgerufen am 22.11.2024.