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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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sinnreich zusammenfassender Aufschriften, seine Epigramme.
Aber niemals findet er ein Wort das in ein Land seliger Un-
vergänglichkeit den Geschiedenen hinüberwiese. Ganz im Dies-
seits wurzelt die Unsterblichkeit der Todten: nur das Ge-
dächtniss und der grosse Name bei der Nachwelt giebt ihnen
Dauer. --

Es trifft wie ein Klang aus einer andern Welt, wenn (um
die Mitte des fünften Jahrhunderts) Melanippides, der Dithy-
rambendichter, einen Gott anruft: "höre mich Vater, Staunen
der Sterblichen, der du der ewig lebendigen Seele waltest".
Der Anruf galt jedenfalls dem Dionysos 1). Wer in den Zauber-
kreis seiner Nachtfeste trat, dem belebten sich die Gesichte
von der Unvergänglichkeit der Menschenseele und ihrer Gottes-
kraft. Die Tagesansicht derer, die nicht in den Gedanken
theologischer oder philosophirender Sondergemeinden lebten,
brachte solcher Weisheit nur halbe Theilnahme entgegen.

2.

Eine eigene Stellung nimmt Pindar ein. Zwei, einander
entgegengesetzte Vorstellungen von Wesen, Herkunft und Be-
stimmung der Seele scheinen mit dem Anspruch auf gleiche
Geltung bei ihm aufzutreten.

In den Siegesliedern überwiegen Andeutungen, die auf
eine mit dem volksthümlichen, auf Dichterworten und den
Voraussetzungen des Seelencults und des Heroendienstes be-
ruhenden Glauben übereinstimmende Ansicht schliessen lassen.
Die Seele verschwindet nach ihrer Trennung vom Leibe in
der Unterwelt 2). Es bleibt wohl Pietät und treues Angeden-

1) kluthi moi o pater, thauma broton, tas aeizoou medeon psukhas.
Melanippid. 6. thauma broton (gebildet nach thauma brotoisi bei Homer)
kann von den, hier in Betracht kommenden Göttern wohl nur Dionys
heissen, Dionusos, kharma brotoisin, Il. 14, 325. Auch denkt man bei einem
Dithyrambendichter am liebsten an diesen Gott.
2) Der Todte amph Akheronti naietaon Nem. 4, 85. Ueberall diese
Voraussetzung: z. B. Pyth. 11, 19--22; Ol. 9, 33--35; Isthm. 8, 59 f. (ed.
Bergk.); fr. 207.

sinnreich zusammenfassender Aufschriften, seine Epigramme.
Aber niemals findet er ein Wort das in ein Land seliger Un-
vergänglichkeit den Geschiedenen hinüberwiese. Ganz im Dies-
seits wurzelt die Unsterblichkeit der Todten: nur das Ge-
dächtniss und der grosse Name bei der Nachwelt giebt ihnen
Dauer. —

Es trifft wie ein Klang aus einer andern Welt, wenn (um
die Mitte des fünften Jahrhunderts) Melanippides, der Dithy-
rambendichter, einen Gott anruft: „höre mich Vater, Staunen
der Sterblichen, der du der ewig lebendigen Seele waltest“.
Der Anruf galt jedenfalls dem Dionysos 1). Wer in den Zauber-
kreis seiner Nachtfeste trat, dem belebten sich die Gesichte
von der Unvergänglichkeit der Menschenseele und ihrer Gottes-
kraft. Die Tagesansicht derer, die nicht in den Gedanken
theologischer oder philosophirender Sondergemeinden lebten,
brachte solcher Weisheit nur halbe Theilnahme entgegen.

2.

Eine eigene Stellung nimmt Pindar ein. Zwei, einander
entgegengesetzte Vorstellungen von Wesen, Herkunft und Be-
stimmung der Seele scheinen mit dem Anspruch auf gleiche
Geltung bei ihm aufzutreten.

In den Siegesliedern überwiegen Andeutungen, die auf
eine mit dem volksthümlichen, auf Dichterworten und den
Voraussetzungen des Seelencults und des Heroendienstes be-
ruhenden Glauben übereinstimmende Ansicht schliessen lassen.
Die Seele verschwindet nach ihrer Trennung vom Leibe in
der Unterwelt 2). Es bleibt wohl Pietät und treues Angeden-

1) κλῦϑί μοι ὦ πάτερ, ϑαῦμα βροτῶν, τᾶς ἀειζώου μεδέων ψυχᾶς.
Melanippid. 6. ϑαῦμα βροτῶν (gebildet nach ϑαῦμα βροτοῖσι bei Homer)
kann von den, hier in Betracht kommenden Göttern wohl nur Dionys
heissen, Διώνυσος, χάρμα βροτοῖσιν, Il. 14, 325. Auch denkt man bei einem
Dithyrambendichter am liebsten an diesen Gott.
2) Der Todte ἀμφ̕ Ἀχέροντι ναιετάων Nem. 4, 85. Ueberall diese
Voraussetzung: z. B. Pyth. 11, 19—22; Ol. 9, 33—35; Isthm. 8, 59 f. (ed.
Bergk.); fr. 207.
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[496/0512] sinnreich zusammenfassender Aufschriften, seine Epigramme. Aber niemals findet er ein Wort das in ein Land seliger Un- vergänglichkeit den Geschiedenen hinüberwiese. Ganz im Dies- seits wurzelt die Unsterblichkeit der Todten: nur das Ge- dächtniss und der grosse Name bei der Nachwelt giebt ihnen Dauer. — Es trifft wie ein Klang aus einer andern Welt, wenn (um die Mitte des fünften Jahrhunderts) Melanippides, der Dithy- rambendichter, einen Gott anruft: „höre mich Vater, Staunen der Sterblichen, der du der ewig lebendigen Seele waltest“. Der Anruf galt jedenfalls dem Dionysos 1). Wer in den Zauber- kreis seiner Nachtfeste trat, dem belebten sich die Gesichte von der Unvergänglichkeit der Menschenseele und ihrer Gottes- kraft. Die Tagesansicht derer, die nicht in den Gedanken theologischer oder philosophirender Sondergemeinden lebten, brachte solcher Weisheit nur halbe Theilnahme entgegen. 2. Eine eigene Stellung nimmt Pindar ein. Zwei, einander entgegengesetzte Vorstellungen von Wesen, Herkunft und Be- stimmung der Seele scheinen mit dem Anspruch auf gleiche Geltung bei ihm aufzutreten. In den Siegesliedern überwiegen Andeutungen, die auf eine mit dem volksthümlichen, auf Dichterworten und den Voraussetzungen des Seelencults und des Heroendienstes be- ruhenden Glauben übereinstimmende Ansicht schliessen lassen. Die Seele verschwindet nach ihrer Trennung vom Leibe in der Unterwelt 2). Es bleibt wohl Pietät und treues Angeden- 1) κλῦϑί μοι ὦ πάτερ, ϑαῦμα βροτῶν, τᾶς ἀειζώου μεδέων ψυχᾶς. Melanippid. 6. ϑαῦμα βροτῶν (gebildet nach ϑαῦμα βροτοῖσι bei Homer) kann von den, hier in Betracht kommenden Göttern wohl nur Dionys heissen, Διώνυσος, χάρμα βροτοῖσιν, Il. 14, 325. Auch denkt man bei einem Dithyrambendichter am liebsten an diesen Gott. 2) Der Todte ἀμφ̕ Ἀχέροντι ναιετάων Nem. 4, 85. Ueberall diese Voraussetzung: z. B. Pyth. 11, 19—22; Ol. 9, 33—35; Isthm. 8, 59 f. (ed. Bergk.); fr. 207.

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 496. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/512>, abgerufen am 22.11.2024.