einzelne Mensch in der nur ihm allein eigenen Prägung seines Wesens löst sich ihm freier ab von dem Hintergrunde über- persönlich allgemeiner Weltmächte und Weltsatzungen; er findet in sich selbst das Gesetz seiner Handlungen, den Grund seiner Erfolge oder seines heroischen Unterganges. Es sind nicht egoistische Absichten, die Antigone zu ihrer That bewegen, oder Elektren: sie genügen altem, ungeschriebenem Göttergebot. Aber ihm zu genügen zwingt sie einzig der Zug und Trieb ihres eigenen Inneren; kein Anderer konnte ihre Thaten ver- richten, ihr Leid erleiden; wir verstehen die Nothwendigkeit und innere Berechtigung dessen was sie thun und leiden, rein aus dem Einblick in die Kräfte und Beschränkungen ihres Einzelwesens, wie es die Bühnenhandlung vor uns entwickelt. Bis zum Auffallenden sind in der "Elektra" die Motive zurück- gedrängt, die aus allgemein verbindlichen Satzungen, der Blut- rachepflicht, dem Recht der beleidigten Seelen zu gewinnen waren: dieser einzelne Fall soll seine Rechtfertigung ganz in sich selbst tragen, und rechtfertigt sich in der That aus Ge- sinnung und Gebahren der leidend und thätig an der Hand- lung betheiligten Menschen so vollständig, dass, anders als bei Aeschylos, keine Qual des Zweifels während der That, keine Seelenangst nach dem Morde der ruchlosen Mörderin den Orest zu überfallen braucht. Wieder, wie einst in der homerischen Erzählung, ist mit der "gerechten Blutthat" 1) des Orestes der Kreis des Unheils geschlossen; keine Erinys steigt auf, auch seinen Untergang zu fordern 2).
1)endikoi sphagai 37. Orest ist des väterlichen Hauses dike kathar- tes pros theon ormemenos 70.
2) Dass nach vollbrachtem Muttermord keine Erinys den Orest ver- folgt, geschieht zwar auch deswegen, weil Sophokles, der mit der "Elektra", als isolirt für sich stehendem Drama, die Handlung ganz zu Ende und zur Ruhe bringen will, keine neuen Fäden an dessen Ausgang anknüpfen darf. Aber der Dichter hätte das so eben nicht einrichten können, wenn ihm der Glaube an die Wesenhaftigkeit der Erinys, an das nothwendige Weiterwirken der Rache in der Familie, nicht, gegen Aeschylos gehalten, bereits verdunkelt, veraltet erschienen wäre. Das alte Familienblutrecht ist ihm weniger bedeutend als das Recht des losgelösten Individuums.
einzelne Mensch in der nur ihm allein eigenen Prägung seines Wesens löst sich ihm freier ab von dem Hintergrunde über- persönlich allgemeiner Weltmächte und Weltsatzungen; er findet in sich selbst das Gesetz seiner Handlungen, den Grund seiner Erfolge oder seines heroischen Unterganges. Es sind nicht egoistische Absichten, die Antigone zu ihrer That bewegen, oder Elektren: sie genügen altem, ungeschriebenem Göttergebot. Aber ihm zu genügen zwingt sie einzig der Zug und Trieb ihres eigenen Inneren; kein Anderer konnte ihre Thaten ver- richten, ihr Leid erleiden; wir verstehen die Nothwendigkeit und innere Berechtigung dessen was sie thun und leiden, rein aus dem Einblick in die Kräfte und Beschränkungen ihres Einzelwesens, wie es die Bühnenhandlung vor uns entwickelt. Bis zum Auffallenden sind in der „Elektra“ die Motive zurück- gedrängt, die aus allgemein verbindlichen Satzungen, der Blut- rachepflicht, dem Recht der beleidigten Seelen zu gewinnen waren: dieser einzelne Fall soll seine Rechtfertigung ganz in sich selbst tragen, und rechtfertigt sich in der That aus Ge- sinnung und Gebahren der leidend und thätig an der Hand- lung betheiligten Menschen so vollständig, dass, anders als bei Aeschylos, keine Qual des Zweifels während der That, keine Seelenangst nach dem Morde der ruchlosen Mörderin den Orest zu überfallen braucht. Wieder, wie einst in der homerischen Erzählung, ist mit der „gerechten Blutthat“ 1) des Orestes der Kreis des Unheils geschlossen; keine Erinys steigt auf, auch seinen Untergang zu fordern 2).
1)ἔνδικοι σφαγαί 37. Orest ist des väterlichen Hauses δίκῃ καϑαρ- τὴς πρὸς ϑεῶν ὡρμημένος 70.
2) Dass nach vollbrachtem Muttermord keine Erinys den Orest ver- folgt, geschieht zwar auch deswegen, weil Sophokles, der mit der „Elektra“, als isolirt für sich stehendem Drama, die Handlung ganz zu Ende und zur Ruhe bringen will, keine neuen Fäden an dessen Ausgang anknüpfen darf. Aber der Dichter hätte das so eben nicht einrichten können, wenn ihm der Glaube an die Wesenhaftigkeit der Erinys, an das nothwendige Weiterwirken der Rache in der Familie, nicht, gegen Aeschylos gehalten, bereits verdunkelt, veraltet erschienen wäre. Das alte Familienblutrecht ist ihm weniger bedeutend als das Recht des losgelösten Individuums.
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in sich selbst das Gesetz seiner Handlungen, den Grund seiner
Erfolge oder seines heroischen Unterganges. Es sind nicht
egoistische Absichten, die Antigone zu ihrer That bewegen,
oder Elektren: sie genügen altem, ungeschriebenem Göttergebot.
Aber ihm zu genügen zwingt sie einzig der Zug und Trieb
ihres eigenen Inneren; kein Anderer konnte ihre Thaten ver-
richten, ihr Leid erleiden; wir verstehen die Nothwendigkeit
und innere Berechtigung dessen was sie thun und leiden, rein
aus dem Einblick in die Kräfte und Beschränkungen ihres
Einzelwesens, wie es die Bühnenhandlung vor uns entwickelt.
Bis zum Auffallenden sind in der „Elektra“ die Motive zurück-
gedrängt, die aus allgemein verbindlichen Satzungen, der Blut-
rachepflicht, dem Recht der beleidigten Seelen zu gewinnen
waren: dieser einzelne Fall soll seine Rechtfertigung ganz in
sich selbst tragen, und rechtfertigt sich in der That aus Ge-
sinnung und Gebahren der leidend und thätig an der Hand-
lung betheiligten Menschen so vollständig, dass, anders als bei
Aeschylos, keine Qual des Zweifels während der That, keine
Seelenangst nach dem Morde der ruchlosen Mörderin den Orest
zu überfallen braucht. Wieder, wie einst in der homerischen
Erzählung, ist mit der „gerechten Blutthat“ 1) des Orestes der
Kreis des Unheils geschlossen; keine Erinys steigt auf, auch
seinen Untergang zu fordern 2).
1) ἔνδικοι σφαγαί 37. Orest ist des väterlichen Hauses δίκῃ καϑαρ-
τὴς πρὸς ϑεῶν ὡρμημένος 70.
2) Dass nach vollbrachtem Muttermord keine Erinys den Orest ver-
folgt, geschieht zwar auch deswegen, weil Sophokles, der mit der „Elektra“,
als isolirt für sich stehendem Drama, die Handlung ganz zu Ende und
zur Ruhe bringen will, keine neuen Fäden an dessen Ausgang anknüpfen
darf. Aber der Dichter hätte das so eben nicht einrichten können, wenn
ihm der Glaube an die Wesenhaftigkeit der Erinys, an das nothwendige
Weiterwirken der Rache in der Familie, nicht, gegen Aeschylos gehalten,
bereits verdunkelt, veraltet erschienen wäre. Das alte Familienblutrecht
ist ihm weniger bedeutend als das Recht des losgelösten Individuums.
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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 526. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/542>, abgerufen am 22.11.2024.
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