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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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Auch wo Leid und Unheil dem Sterblichen nicht aus
eigenem bewussten Entschluss und Willen, sondern durch dunkle
Schicksalsmacht entsteht, ist es doch der besondere Charakter
des Helden, der, wie seine Entfaltung unseren Antheil vor-
wiegend fordert, so den Verlauf der Ereignisse allein bestimmt
und genügend erklärt. Das gleiche Missgeschick könnte Andere
treffen, aber seine innere und äussere Wirkung würde nicht
dieselbe sein wie für Oedipus und Aias. Nur tragisch unbe-
dingte Charaktere können tragisches Geschick haben.

Und doch entspringt in diesen und anderen Tragödien
das, was der Handlung Anstoss und Richtung giebt, nicht aus
Willen und Sinnesart der Helden. Aias hat in Unfreiheit des
Geistes die That vollbracht, die ihn in den Tod treibt. Oedi-
pus, Deianira rächen an sich selber die Gräuelthaten die sie
begangen haben ohne zu wissen was sie thun. So völlig im
"Philoktet" das Interesse auf dem lebendigen Widerspiel der
kräftig von einander sich abhebenden Charaktere des Philoktet,
Neoptolemos und Odysseus beruht: die Situation, die sie im
Widerstreit zusammenführt, ist durch ein Ereigniss gestaltet,
das zu bewirken oder zu verhindern in keines Menschen Ab-
sicht oder Macht lag. Eine dunkle Gewalt stürzt den Menschen
in Leiden, treibt ihn zu Thaten, vor deren Anblick das schnell
bereite Urtheil über seine "Schuld" oder den Zusammenhang
von Leid und Verschuldung verstummt. Es ist nicht altver-
erbter Familienfrevel, der hier Sohn und Enkel des Frevlers
Thaten begehen lässt, die kaum seine eigenen heissen können.
Der Dichter weiss von dieser, in der Dichtung des Aeschylos
so wirksamen Vorstellung 1), aber sie ist ihm nur wie eine
historische Ueberlieferung, nicht lebendiges Motiv seiner Dich-
tung. Auch nicht irrationaler Zufall, nicht unpersönlich, will-
kürlos nothwendig wirkendes Schicksal ist es, was dem unfreien
Thäter Gedanken und Hand zwingt. Heller oder dunkler scheint
im Hintergrund des Geschehenden der bewusste Wille einer

1) Flüchtige Hindeutungen El. 504 ff.; O. Col. 965. Antig. 856. Vgl.
584 ff. 594 ff.

Auch wo Leid und Unheil dem Sterblichen nicht aus
eigenem bewussten Entschluss und Willen, sondern durch dunkle
Schicksalsmacht entsteht, ist es doch der besondere Charakter
des Helden, der, wie seine Entfaltung unseren Antheil vor-
wiegend fordert, so den Verlauf der Ereignisse allein bestimmt
und genügend erklärt. Das gleiche Missgeschick könnte Andere
treffen, aber seine innere und äussere Wirkung würde nicht
dieselbe sein wie für Oedipus und Aias. Nur tragisch unbe-
dingte Charaktere können tragisches Geschick haben.

Und doch entspringt in diesen und anderen Tragödien
das, was der Handlung Anstoss und Richtung giebt, nicht aus
Willen und Sinnesart der Helden. Aias hat in Unfreiheit des
Geistes die That vollbracht, die ihn in den Tod treibt. Oedi-
pus, Deianira rächen an sich selber die Gräuelthaten die sie
begangen haben ohne zu wissen was sie thun. So völlig im
„Philoktet“ das Interesse auf dem lebendigen Widerspiel der
kräftig von einander sich abhebenden Charaktere des Philoktet,
Neoptolemos und Odysseus beruht: die Situation, die sie im
Widerstreit zusammenführt, ist durch ein Ereigniss gestaltet,
das zu bewirken oder zu verhindern in keines Menschen Ab-
sicht oder Macht lag. Eine dunkle Gewalt stürzt den Menschen
in Leiden, treibt ihn zu Thaten, vor deren Anblick das schnell
bereite Urtheil über seine „Schuld“ oder den Zusammenhang
von Leid und Verschuldung verstummt. Es ist nicht altver-
erbter Familienfrevel, der hier Sohn und Enkel des Frevlers
Thaten begehen lässt, die kaum seine eigenen heissen können.
Der Dichter weiss von dieser, in der Dichtung des Aeschylos
so wirksamen Vorstellung 1), aber sie ist ihm nur wie eine
historische Ueberlieferung, nicht lebendiges Motiv seiner Dich-
tung. Auch nicht irrationaler Zufall, nicht unpersönlich, will-
kürlos nothwendig wirkendes Schicksal ist es, was dem unfreien
Thäter Gedanken und Hand zwingt. Heller oder dunkler scheint
im Hintergrund des Geschehenden der bewusste Wille einer

1) Flüchtige Hindeutungen El. 504 ff.; O. Col. 965. Antig. 856. Vgl.
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[527/0543] Auch wo Leid und Unheil dem Sterblichen nicht aus eigenem bewussten Entschluss und Willen, sondern durch dunkle Schicksalsmacht entsteht, ist es doch der besondere Charakter des Helden, der, wie seine Entfaltung unseren Antheil vor- wiegend fordert, so den Verlauf der Ereignisse allein bestimmt und genügend erklärt. Das gleiche Missgeschick könnte Andere treffen, aber seine innere und äussere Wirkung würde nicht dieselbe sein wie für Oedipus und Aias. Nur tragisch unbe- dingte Charaktere können tragisches Geschick haben. Und doch entspringt in diesen und anderen Tragödien das, was der Handlung Anstoss und Richtung giebt, nicht aus Willen und Sinnesart der Helden. Aias hat in Unfreiheit des Geistes die That vollbracht, die ihn in den Tod treibt. Oedi- pus, Deianira rächen an sich selber die Gräuelthaten die sie begangen haben ohne zu wissen was sie thun. So völlig im „Philoktet“ das Interesse auf dem lebendigen Widerspiel der kräftig von einander sich abhebenden Charaktere des Philoktet, Neoptolemos und Odysseus beruht: die Situation, die sie im Widerstreit zusammenführt, ist durch ein Ereigniss gestaltet, das zu bewirken oder zu verhindern in keines Menschen Ab- sicht oder Macht lag. Eine dunkle Gewalt stürzt den Menschen in Leiden, treibt ihn zu Thaten, vor deren Anblick das schnell bereite Urtheil über seine „Schuld“ oder den Zusammenhang von Leid und Verschuldung verstummt. Es ist nicht altver- erbter Familienfrevel, der hier Sohn und Enkel des Frevlers Thaten begehen lässt, die kaum seine eigenen heissen können. Der Dichter weiss von dieser, in der Dichtung des Aeschylos so wirksamen Vorstellung 1), aber sie ist ihm nur wie eine historische Ueberlieferung, nicht lebendiges Motiv seiner Dich- tung. Auch nicht irrationaler Zufall, nicht unpersönlich, will- kürlos nothwendig wirkendes Schicksal ist es, was dem unfreien Thäter Gedanken und Hand zwingt. Heller oder dunkler scheint im Hintergrund des Geschehenden der bewusste Wille einer 1) Flüchtige Hindeutungen El. 504 ff.; O. Col. 965. Antig. 856. Vgl. 584 ff. 594 ff.

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 527. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/543>, abgerufen am 22.11.2024.