Gedichten seiner Sänger als die seinige herauslesen, und die von dem alten Seelencult nur wenige Rudimente bewahren mochte. Den eigentlichen Grund der Veränderung in Glauben und Brauch würden wir dennoch erst erfassen können, wenn wir Kenntniss und Verständniss von den geistigen Bewegungen hätten, die zu der Ausbildung der homerischen Weltauffassung geführt haben, in deren Rahmen auch der Seelenglaube sich fügt. Hier geziemt es sich völlig zu entsagen. Wir sehen einzig die Ergebnisse dieser Bewegungen vor uns. Und da können wir so viel immerhin wahrnehmen, dass die religiöse Phantasie der Griechen, in deren Mitte Homer dichtet, eine Richtung genommen hatte, die dem Geister- und Seelenglauben wenig Spielraum bot. Der Grieche Homers fühlt im tiefsten Herzen seine Bedingtheit, seine Abhängigkeit von Mächten, die ausser ihm walten; sich dessen zu erinnern, sich zu be- scheiden in sein Loos, das ist seine Frömmigkeit. Ueber ihm walten die Götter, mit Zaubers Kraft, oft nach unweisem Gutdünken, aber die Vorstellung einer allgemeinen Weltord- nung, einer Fügung der sich durchkreuzenden Ereignisse des Lebens der Einzelnen und der Gesammtheit nach zubemessenem Theile (moira) ist erwacht, die Willkür des einzelnen Dämons ist doch beschränkt, beschränkt auch durch den Willen des höchsten der Götter. Es kündigt sich der Glaube an, dass die Welt ein Kosmos sei, eine Wohlordnung, wie sie die Staaten der Menschen einzurichten suchen. Neben solchen Vorstellungen konnte der Glaube an wirres Gespenstertreiben nicht gedeihen, welches, im Gegensatz zum ächten Götterwesen, stets daran kenntlich ist, dass es ausserhalb jeder zum Ganzen sich zusammenschliessenden Thätigkeit steht, dem Gelüste, der Bosheit des einzelnen unsichtbaren Mächtigen allen Spielraum lässt. Das Irrationelle, Unerklärliche ist das Element des Seelen- und Geisterglaubens, hierauf beruht das eigenthümlich Schauerliche dieses Gebietes des Glaubens oder Wahns, und auf dem unstät Schwankenden seiner Gestaltungen. Die home- rische Religion lebt im Rationellen, ihre Götter sind völlig be-
Gedichten seiner Sänger als die seinige herauslesen, und die von dem alten Seelencult nur wenige Rudimente bewahren mochte. Den eigentlichen Grund der Veränderung in Glauben und Brauch würden wir dennoch erst erfassen können, wenn wir Kenntniss und Verständniss von den geistigen Bewegungen hätten, die zu der Ausbildung der homerischen Weltauffassung geführt haben, in deren Rahmen auch der Seelenglaube sich fügt. Hier geziemt es sich völlig zu entsagen. Wir sehen einzig die Ergebnisse dieser Bewegungen vor uns. Und da können wir so viel immerhin wahrnehmen, dass die religiöse Phantasie der Griechen, in deren Mitte Homer dichtet, eine Richtung genommen hatte, die dem Geister- und Seelenglauben wenig Spielraum bot. Der Grieche Homers fühlt im tiefsten Herzen seine Bedingtheit, seine Abhängigkeit von Mächten, die ausser ihm walten; sich dessen zu erinnern, sich zu be- scheiden in sein Loos, das ist seine Frömmigkeit. Ueber ihm walten die Götter, mit Zaubers Kraft, oft nach unweisem Gutdünken, aber die Vorstellung einer allgemeinen Weltord- nung, einer Fügung der sich durchkreuzenden Ereignisse des Lebens der Einzelnen und der Gesammtheit nach zubemessenem Theile (μοῖρα) ist erwacht, die Willkür des einzelnen Dämons ist doch beschränkt, beschränkt auch durch den Willen des höchsten der Götter. Es kündigt sich der Glaube an, dass die Welt ein Kosmos sei, eine Wohlordnung, wie sie die Staaten der Menschen einzurichten suchen. Neben solchen Vorstellungen konnte der Glaube an wirres Gespenstertreiben nicht gedeihen, welches, im Gegensatz zum ächten Götterwesen, stets daran kenntlich ist, dass es ausserhalb jeder zum Ganzen sich zusammenschliessenden Thätigkeit steht, dem Gelüste, der Bosheit des einzelnen unsichtbaren Mächtigen allen Spielraum lässt. Das Irrationelle, Unerklärliche ist das Element des Seelen- und Geisterglaubens, hierauf beruht das eigenthümlich Schauerliche dieses Gebietes des Glaubens oder Wahns, und auf dem unstät Schwankenden seiner Gestaltungen. Die home- rische Religion lebt im Rationellen, ihre Götter sind völlig be-
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Gedichten seiner Sänger als die seinige herauslesen, und die von
dem alten Seelencult nur wenige Rudimente bewahren mochte.
Den eigentlichen Grund der Veränderung in Glauben und
Brauch würden wir dennoch erst erfassen können, wenn wir
Kenntniss und Verständniss von den geistigen Bewegungen
hätten, die zu der Ausbildung der homerischen Weltauffassung
geführt haben, in deren Rahmen auch der Seelenglaube sich
fügt. Hier geziemt es sich völlig zu entsagen. Wir sehen
einzig die Ergebnisse dieser Bewegungen vor uns. Und da
können wir so viel immerhin wahrnehmen, dass die religiöse
Phantasie der Griechen, in deren Mitte Homer dichtet, eine
Richtung genommen hatte, die dem Geister- und Seelenglauben
wenig Spielraum bot. Der Grieche Homers fühlt im tiefsten
Herzen seine Bedingtheit, seine Abhängigkeit von Mächten,
die ausser ihm walten; sich dessen zu erinnern, sich zu be-
scheiden in sein Loos, das ist seine Frömmigkeit. Ueber ihm
walten die Götter, mit Zaubers Kraft, oft nach unweisem
Gutdünken, aber die Vorstellung einer allgemeinen Weltord-
nung, einer Fügung der sich durchkreuzenden Ereignisse des
Lebens der Einzelnen und der Gesammtheit nach zubemessenem
Theile (μοῖρα) ist erwacht, die Willkür des einzelnen Dämons
ist doch beschränkt, beschränkt auch durch den Willen des
höchsten der Götter. Es kündigt sich der Glaube an, dass
die Welt ein Kosmos sei, eine Wohlordnung, wie sie die
Staaten der Menschen einzurichten suchen. Neben solchen
Vorstellungen konnte der Glaube an wirres Gespenstertreiben
nicht gedeihen, welches, im Gegensatz zum ächten Götterwesen,
stets daran kenntlich ist, dass es ausserhalb jeder zum Ganzen
sich zusammenschliessenden Thätigkeit steht, dem Gelüste, der
Bosheit des einzelnen unsichtbaren Mächtigen allen Spielraum
lässt. Das Irrationelle, Unerklärliche ist das Element des
Seelen- und Geisterglaubens, hierauf beruht das eigenthümlich
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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 40. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/56>, abgerufen am 24.11.2024.
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