greiflich griechischem Sinn, in Gestalt und Gebahren völlig deutlich und hell erkennbar griechischer Phantasie. Je greif- barer sie sich gestalteten, um so mehr schwanden die Seelen- bilder zu leeren Schatten zusammen. Es war auch Niemand da, der ein Interesse an der Erhaltung und Vermehrung religiöser Wahnvorstellungen gehabt hätte, es fehlte völlig ein lehrender oder durch Alleinbesitz der Kenntniss ritualen Formel- wesens und Geisterzwanges mächtiger Priesterstand. Wenn es einen Lehrstand gab, so war es, in diesem Zeitalter, in dem noch alle höchsten Geisteskräfte ihren gesammelten Ausdruck in der Poesie fanden, der Stand der Dichter und Sänger. Und dieser zeigt eine durchaus "weltliche" Richtung, auch im Religiösen. Ja diese hellsten Köpfe desjenigen griechischen Stammes, der in späteren Jahrhunderten die Naturwissenschaft und Philosophie "erfand" (wie man hier einmal sagen darf) lassen bereits eine Vorstellungsart erkennen, die von Weitem eine Gefährdung der ganzen Welt plastischer Gestaltungen geistiger Kräfte droht, welche das höhere Alterthum aufge- baut hatte.
Die ursprüngliche Auffassung des "Naturmenschen" weiss die Regungen des Willens, Gemüthes, Verstandes nur als Hand- lungen eines innerhalb des sichtbaren Menschen Wollenden, den sie in irgend einem Organ des menschlichen Leibes ver- körpert sieht, zu verstehen. Auch die homerischen Gedichte benennen noch mit dem Namen des "Zwerchfelles" (phren, phrenes) geradezu die Mehrzahl der Willens- und Gemüths- regungen, auch wohl die Verstandesthätigkeit; das "Herz" (etor, ker) ist auch der Name der Gemüthsbewegungen, den man in ihm localisirt denkt, eigentlich mit ihm identificirt. Aber schon wird diese Bezeichnung eine formelhafte, sie ist oft nicht eigentlich zu verstehen, die Worte des Dichters lassen erkennen, dass er in der That sich die, immer noch nach Körpertheilen benannten Triebe und Regungen körperfrei dachte 1). Und so
1) Die Beispiele bei Nägelsbach, Homer Theol.2 p. 387 f. (phrenes), W. Schrader, Jahrb. f. Philol. 1885 S. 163 f. (etor).
greiflich griechischem Sinn, in Gestalt und Gebahren völlig deutlich und hell erkennbar griechischer Phantasie. Je greif- barer sie sich gestalteten, um so mehr schwanden die Seelen- bilder zu leeren Schatten zusammen. Es war auch Niemand da, der ein Interesse an der Erhaltung und Vermehrung religiöser Wahnvorstellungen gehabt hätte, es fehlte völlig ein lehrender oder durch Alleinbesitz der Kenntniss ritualen Formel- wesens und Geisterzwanges mächtiger Priesterstand. Wenn es einen Lehrstand gab, so war es, in diesem Zeitalter, in dem noch alle höchsten Geisteskräfte ihren gesammelten Ausdruck in der Poesie fanden, der Stand der Dichter und Sänger. Und dieser zeigt eine durchaus „weltliche“ Richtung, auch im Religiösen. Ja diese hellsten Köpfe desjenigen griechischen Stammes, der in späteren Jahrhunderten die Naturwissenschaft und Philosophie „erfand“ (wie man hier einmal sagen darf) lassen bereits eine Vorstellungsart erkennen, die von Weitem eine Gefährdung der ganzen Welt plastischer Gestaltungen geistiger Kräfte droht, welche das höhere Alterthum aufge- baut hatte.
Die ursprüngliche Auffassung des „Naturmenschen“ weiss die Regungen des Willens, Gemüthes, Verstandes nur als Hand- lungen eines innerhalb des sichtbaren Menschen Wollenden, den sie in irgend einem Organ des menschlichen Leibes ver- körpert sieht, zu verstehen. Auch die homerischen Gedichte benennen noch mit dem Namen des „Zwerchfelles“ (φρήν, φρένες) geradezu die Mehrzahl der Willens- und Gemüths- regungen, auch wohl die Verstandesthätigkeit; das „Herz“ (ἦτορ, κῆρ) ist auch der Name der Gemüthsbewegungen, den man in ihm localisirt denkt, eigentlich mit ihm identificirt. Aber schon wird diese Bezeichnung eine formelhafte, sie ist oft nicht eigentlich zu verstehen, die Worte des Dichters lassen erkennen, dass er in der That sich die, immer noch nach Körpertheilen benannten Triebe und Regungen körperfrei dachte 1). Und so
1) Die Beispiele bei Nägelsbach, Homer Theol.2 p. 387 f. (φρένες), W. Schrader, Jahrb. f. Philol. 1885 S. 163 f. (ἦτορ).
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da, der ein Interesse an der Erhaltung und Vermehrung
religiöser Wahnvorstellungen gehabt hätte, es fehlte völlig ein
lehrender oder durch Alleinbesitz der Kenntniss ritualen Formel-
wesens und Geisterzwanges mächtiger Priesterstand. Wenn es
einen Lehrstand gab, so war es, in diesem Zeitalter, in dem
noch alle höchsten Geisteskräfte ihren gesammelten Ausdruck
in der Poesie fanden, der Stand der Dichter und Sänger. Und
dieser zeigt eine durchaus „weltliche“ Richtung, auch im
Religiösen. Ja diese hellsten Köpfe desjenigen griechischen
Stammes, der in späteren Jahrhunderten die Naturwissenschaft
und Philosophie „erfand“ (wie man hier einmal sagen darf)
lassen bereits eine Vorstellungsart erkennen, die von Weitem
eine Gefährdung der ganzen Welt plastischer Gestaltungen
geistiger Kräfte droht, welche das höhere Alterthum aufge-
baut hatte.
Die ursprüngliche Auffassung des „Naturmenschen“ weiss
die Regungen des Willens, Gemüthes, Verstandes nur als Hand-
lungen eines innerhalb des sichtbaren Menschen Wollenden,
den sie in irgend einem Organ des menschlichen Leibes ver-
körpert sieht, zu verstehen. Auch die homerischen Gedichte
benennen noch mit dem Namen des „Zwerchfelles“ (φρήν,
φρένες) geradezu die Mehrzahl der Willens- und Gemüths-
regungen, auch wohl die Verstandesthätigkeit; das „Herz“ (ἦτορ,
κῆρ) ist auch der Name der Gemüthsbewegungen, den man in
ihm localisirt denkt, eigentlich mit ihm identificirt. Aber
schon wird diese Bezeichnung eine formelhafte, sie ist oft nicht
eigentlich zu verstehen, die Worte des Dichters lassen erkennen,
dass er in der That sich die, immer noch nach Körpertheilen
benannten Triebe und Regungen körperfrei dachte 1). Und so
1) Die Beispiele bei Nägelsbach, Homer Theol.2 p. 387 f. (φρένες),
W. Schrader, Jahrb. f. Philol. 1885 S. 163 f. (ἦτορ).
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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 41. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/57>, abgerufen am 24.11.2024.
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