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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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Der letzte Beweis dafür, dass eine Psyche im Lebenden ge-
haust haben muss, ist der, dass sie im Tode Abschied nimmt.
Der Mensch stirbt, wenn er den letzten Athem verhaucht:
eben dieser Hauch, ein Luftwesen, nicht ein Nichts (so wenig
wie etwa die Winde, seine Verwandten), sondern ein gestalteter,
wenn auch wachen Augen unsichtbarer Körper ist die Psyche,
deren Art, als Abbild des Menschen, man ja aus dem Traum-
gesicht kennt. Wer nun aber schon gewöhnt ist, körperfrei
wirkende Kräfte im Inneren des Menschen anzuerkennen, der
wird auch bei dieser letzten Gelegenheit, bei der Kräfte im
Menschen sich regen, leicht zu der Annahme geführt werden,
dass, was den Tod des Menschen herbeiführe, nicht ein körper-
liches Wesen sei, das aus ihm entweiche, sondern eine Kraft,
eine Qualität, die zu wirken aufhöre: keine andere als eben
"das Leben". Einem nackten Begriff wie "Leben" ein selb-
ständiges Dasein nach der Auflösung des Leibes zuzuschreiben,
daran könnte er natürlich nicht denken. So weit ist nun der
homerische Dichter nicht vorgeschritten: allermeist ist und
bleibt ihm die Psyche ein reales Wesen, des Menschen zweites
Ich. Aber dass er den gefährlichen Weg, bei dessen Verfol-
gung sich die Seele zu einer Abstraction, zum Lebensbegriff
verflüchtigt, doch schon angefangen hat zu beschreiten, das
zeigt sich daran, dass er bisweilen ganz unverkennbar "Psyche"
sagt, wo wir "Leben" sagen würden 1). Es ist im Grunde die

1) peri psukhes theon Il. 22, 161; peri psukheon emakhonto Od. 22, 245;
psukhen paraballomenos Il. 9, 322; psukhas parthemenoi Od. 3, 74; 9, 255; psukhes
antaxion Il. 9, 401. Namentlich vgl. Od. 9, 523; ai gar de psukhes te kai
aionos se dunaimen eunin poiesas pempsai domon Aidos eiso. Der psukhe im
eigentlichen Sinn beraubt kann Niemand in den Hades eingehen, denn
eben die psukhe ist es ja, die allein in den Hades eingeht. Psukhe steht also
hier besonders deutlich = Leben, wie denn dies das erklärend hinzu-
tretende kai aionos noch besonders bestätigt. Zweifelhafter ist schon, ob
psukhes olethros Il. 22, 325 hierher zu ziehen ist, oder: psukhen olesantes
Il. 13, 763; 24, 168. Andere Stellen, die Nägelsbach, Hom. Theol.2 p. 381,
und Schrader, Jahrb. f. Phil. 1885 S. 167 anführen, lassen eine sinnliche
Deutung von psukhe zu oder fordern sie (so Il. 5, 696 ff.; 8, 123; Od. 18, 91
u. s. w.).

Der letzte Beweis dafür, dass eine Psyche im Lebenden ge-
haust haben muss, ist der, dass sie im Tode Abschied nimmt.
Der Mensch stirbt, wenn er den letzten Athem verhaucht:
eben dieser Hauch, ein Luftwesen, nicht ein Nichts (so wenig
wie etwa die Winde, seine Verwandten), sondern ein gestalteter,
wenn auch wachen Augen unsichtbarer Körper ist die Psyche,
deren Art, als Abbild des Menschen, man ja aus dem Traum-
gesicht kennt. Wer nun aber schon gewöhnt ist, körperfrei
wirkende Kräfte im Inneren des Menschen anzuerkennen, der
wird auch bei dieser letzten Gelegenheit, bei der Kräfte im
Menschen sich regen, leicht zu der Annahme geführt werden,
dass, was den Tod des Menschen herbeiführe, nicht ein körper-
liches Wesen sei, das aus ihm entweiche, sondern eine Kraft,
eine Qualität, die zu wirken aufhöre: keine andere als eben
„das Leben“. Einem nackten Begriff wie „Leben“ ein selb-
ständiges Dasein nach der Auflösung des Leibes zuzuschreiben,
daran könnte er natürlich nicht denken. So weit ist nun der
homerische Dichter nicht vorgeschritten: allermeist ist und
bleibt ihm die Psyche ein reales Wesen, des Menschen zweites
Ich. Aber dass er den gefährlichen Weg, bei dessen Verfol-
gung sich die Seele zu einer Abstraction, zum Lebensbegriff
verflüchtigt, doch schon angefangen hat zu beschreiten, das
zeigt sich daran, dass er bisweilen ganz unverkennbar „Psyche“
sagt, wo wir „Leben“ sagen würden 1). Es ist im Grunde die

1) περὶ ψυχῆς ϑέον Il. 22, 161; περὶ ψυχέων ἐμάχοντο Od. 22, 245;
ψυχὴν παραβαλλόμενος Il. 9, 322; ψυχὰς παρϑέμενοι Od. 3, 74; 9, 255; ψυχῆς
ἀντάξιον Il. 9, 401. Namentlich vgl. Od. 9, 523; αἲ γὰρ δὴ ψυχῆς τε καὶ
αἰῶνός σε δυναίμην εὖνιν ποιήσας πέμψαι δόμον Ἄϊδος εἴσω. Der ψυχή im
eigentlichen Sinn beraubt kann Niemand in den Hades eingehen, denn
eben die ψυχή ist es ja, die allein in den Hades eingeht. Ψυχή steht also
hier besonders deutlich = Leben, wie denn dies das erklärend hinzu-
tretende καὶ αἰῶνος noch besonders bestätigt. Zweifelhafter ist schon, ob
ψυχῆς ὄλεϑρος Il. 22, 325 hierher zu ziehen ist, oder: ψυχὴν ὀλέσαντες
Il. 13, 763; 24, 168. Andere Stellen, die Nägelsbach, Hom. Theol.2 p. 381,
und Schrader, Jahrb. f. Phil. 1885 S. 167 anführen, lassen eine sinnliche
Deutung von ψυχή zu oder fordern sie (so Il. 5, 696 ff.; 8, 123; Od. 18, 91
u. s. w.).
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[43/0059] Der letzte Beweis dafür, dass eine Psyche im Lebenden ge- haust haben muss, ist der, dass sie im Tode Abschied nimmt. Der Mensch stirbt, wenn er den letzten Athem verhaucht: eben dieser Hauch, ein Luftwesen, nicht ein Nichts (so wenig wie etwa die Winde, seine Verwandten), sondern ein gestalteter, wenn auch wachen Augen unsichtbarer Körper ist die Psyche, deren Art, als Abbild des Menschen, man ja aus dem Traum- gesicht kennt. Wer nun aber schon gewöhnt ist, körperfrei wirkende Kräfte im Inneren des Menschen anzuerkennen, der wird auch bei dieser letzten Gelegenheit, bei der Kräfte im Menschen sich regen, leicht zu der Annahme geführt werden, dass, was den Tod des Menschen herbeiführe, nicht ein körper- liches Wesen sei, das aus ihm entweiche, sondern eine Kraft, eine Qualität, die zu wirken aufhöre: keine andere als eben „das Leben“. Einem nackten Begriff wie „Leben“ ein selb- ständiges Dasein nach der Auflösung des Leibes zuzuschreiben, daran könnte er natürlich nicht denken. So weit ist nun der homerische Dichter nicht vorgeschritten: allermeist ist und bleibt ihm die Psyche ein reales Wesen, des Menschen zweites Ich. Aber dass er den gefährlichen Weg, bei dessen Verfol- gung sich die Seele zu einer Abstraction, zum Lebensbegriff verflüchtigt, doch schon angefangen hat zu beschreiten, das zeigt sich daran, dass er bisweilen ganz unverkennbar „Psyche“ sagt, wo wir „Leben“ sagen würden 1). Es ist im Grunde die 1) περὶ ψυχῆς ϑέον Il. 22, 161; περὶ ψυχέων ἐμάχοντο Od. 22, 245; ψυχὴν παραβαλλόμενος Il. 9, 322; ψυχὰς παρϑέμενοι Od. 3, 74; 9, 255; ψυχῆς ἀντάξιον Il. 9, 401. Namentlich vgl. Od. 9, 523; αἲ γὰρ δὴ ψυχῆς τε καὶ αἰῶνός σε δυναίμην εὖνιν ποιήσας πέμψαι δόμον Ἄϊδος εἴσω. Der ψυχή im eigentlichen Sinn beraubt kann Niemand in den Hades eingehen, denn eben die ψυχή ist es ja, die allein in den Hades eingeht. Ψυχή steht also hier besonders deutlich = Leben, wie denn dies das erklärend hinzu- tretende καὶ αἰῶνος noch besonders bestätigt. Zweifelhafter ist schon, ob ψυχῆς ὄλεϑρος Il. 22, 325 hierher zu ziehen ist, oder: ψυχὴν ὀλέσαντες Il. 13, 763; 24, 168. Andere Stellen, die Nägelsbach, Hom. Theol.2 p. 381, und Schrader, Jahrb. f. Phil. 1885 S. 167 anführen, lassen eine sinnliche Deutung von ψυχή zu oder fordern sie (so Il. 5, 696 ff.; 8, 123; Od. 18, 91 u. s. w.).

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/59>, abgerufen am 24.11.2024.