gleiche Vorstellungsart, die ihn veranlasst hatte, hier und da "Zwerchfell" (phrenes) zu sagen, wo er nicht mehr das körper- liche Zwerchfell, sondern den abstracten Begriff des Wollens oder Denkens dachte. Wer statt "Leben" Psyche sagt, wird darum noch nicht sofort auch statt Psyche "Leben" sagen (und der Dichter thut es nicht), aber offenbar ist ihm, auf dem Wege der Entkörperung der Begriffe, auch das einst so höchst inhaltvolle Gebilde der Psyche schon stark verblasst und verflüchtigt. --
Die Trennung vom Lande der Vorfahren, die Gewöhnung an die Sitte des Leichenbrandes, die Richtung der religiösen Vorstellungen, die Neigung, die einst körperlich vorgestellten Principien des inneren Lebens des Menschen in Abstracta zu verwandeln, haben beigetragen, den Glauben an inhaltvolles, machtvolles Leben der abgeschiedenen Seelen, an ihre Ver- bindung mit den Vorgängen der diesseitigen Welt zu schwächen, den Seelencult zu beschränken. So viel, glaube ich, dürfen wir behaupten. Die innersten und stärksten Gründe für diese Ab- schwächung des Glaubens und des Cultus mögen sich unserer Kenntniss entziehen, wie es sich unserer Kenntniss entzieht, wie weit im Einzelnen die homerische Dichtung den Glauben des Volkes, das ihr zuerst lauschte, darstellt, wo die freie Thätig- keit des Dichters beginnt. Dass die Zusammenordnung der einzelnen Elemente des Glaubens zu einem Ganzen, das man, wie- wohl es von dem Charakter eines streng geschlossenen Systems weit genug entfernt ist, nicht unpassend die homerische Theologie nennt, des Dichters eigenes Werk ist, darf man als sehr wahr- scheinlich ansehen. Seine Gesammtansicht von göttlichen Dingen kann sich mit grosser Unbefangenheit darstellen, sie gerieth mit keiner Volksansicht in Streit, denn die Religion des Volkes, damals ohne Zweifel ebenso wie stets in Griechenland in der rechten Verehrung der Landesgötter, nicht im Dogma sich vollendend, wird schwerlich eine geordnete Gesammtvorstellung von Göttern und Göttlichem gehabt haben, mit der der Dichter sich hätte auseinandersetzen müssen oder können. Dass seiner-
gleiche Vorstellungsart, die ihn veranlasst hatte, hier und da „Zwerchfell“ (φρένες) zu sagen, wo er nicht mehr das körper- liche Zwerchfell, sondern den abstracten Begriff des Wollens oder Denkens dachte. Wer statt „Leben“ Psyche sagt, wird darum noch nicht sofort auch statt Psyche „Leben“ sagen (und der Dichter thut es nicht), aber offenbar ist ihm, auf dem Wege der Entkörperung der Begriffe, auch das einst so höchst inhaltvolle Gebilde der Psyche schon stark verblasst und verflüchtigt. —
Die Trennung vom Lande der Vorfahren, die Gewöhnung an die Sitte des Leichenbrandes, die Richtung der religiösen Vorstellungen, die Neigung, die einst körperlich vorgestellten Principien des inneren Lebens des Menschen in Abstracta zu verwandeln, haben beigetragen, den Glauben an inhaltvolles, machtvolles Leben der abgeschiedenen Seelen, an ihre Ver- bindung mit den Vorgängen der diesseitigen Welt zu schwächen, den Seelencult zu beschränken. So viel, glaube ich, dürfen wir behaupten. Die innersten und stärksten Gründe für diese Ab- schwächung des Glaubens und des Cultus mögen sich unserer Kenntniss entziehen, wie es sich unserer Kenntniss entzieht, wie weit im Einzelnen die homerische Dichtung den Glauben des Volkes, das ihr zuerst lauschte, darstellt, wo die freie Thätig- keit des Dichters beginnt. Dass die Zusammenordnung der einzelnen Elemente des Glaubens zu einem Ganzen, das man, wie- wohl es von dem Charakter eines streng geschlossenen Systems weit genug entfernt ist, nicht unpassend die homerische Theologie nennt, des Dichters eigenes Werk ist, darf man als sehr wahr- scheinlich ansehen. Seine Gesammtansicht von göttlichen Dingen kann sich mit grosser Unbefangenheit darstellen, sie gerieth mit keiner Volksansicht in Streit, denn die Religion des Volkes, damals ohne Zweifel ebenso wie stets in Griechenland in der rechten Verehrung der Landesgötter, nicht im Dogma sich vollendend, wird schwerlich eine geordnete Gesammtvorstellung von Göttern und Göttlichem gehabt haben, mit der der Dichter sich hätte auseinandersetzen müssen oder können. Dass seiner-
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gleiche Vorstellungsart, die ihn veranlasst hatte, hier und da
„Zwerchfell“ (φρένες) zu sagen, wo er nicht mehr das körper-
liche Zwerchfell, sondern den abstracten Begriff des Wollens
oder Denkens dachte. Wer statt „Leben“ Psyche sagt, wird
darum noch nicht sofort auch statt Psyche „Leben“ sagen
(und der Dichter thut es nicht), aber offenbar ist ihm, auf
dem Wege der Entkörperung der Begriffe, auch das einst so
höchst inhaltvolle Gebilde der Psyche schon stark verblasst und
verflüchtigt. —
Die Trennung vom Lande der Vorfahren, die Gewöhnung
an die Sitte des Leichenbrandes, die Richtung der religiösen
Vorstellungen, die Neigung, die einst körperlich vorgestellten
Principien des inneren Lebens des Menschen in Abstracta zu
verwandeln, haben beigetragen, den Glauben an inhaltvolles,
machtvolles Leben der abgeschiedenen Seelen, an ihre Ver-
bindung mit den Vorgängen der diesseitigen Welt zu schwächen,
den Seelencult zu beschränken. So viel, glaube ich, dürfen wir
behaupten. Die innersten und stärksten Gründe für diese Ab-
schwächung des Glaubens und des Cultus mögen sich unserer
Kenntniss entziehen, wie es sich unserer Kenntniss entzieht,
wie weit im Einzelnen die homerische Dichtung den Glauben des
Volkes, das ihr zuerst lauschte, darstellt, wo die freie Thätig-
keit des Dichters beginnt. Dass die Zusammenordnung der
einzelnen Elemente des Glaubens zu einem Ganzen, das man, wie-
wohl es von dem Charakter eines streng geschlossenen Systems
weit genug entfernt ist, nicht unpassend die homerische Theologie
nennt, des Dichters eigenes Werk ist, darf man als sehr wahr-
scheinlich ansehen. Seine Gesammtansicht von göttlichen Dingen
kann sich mit grosser Unbefangenheit darstellen, sie gerieth mit
keiner Volksansicht in Streit, denn die Religion des Volkes,
damals ohne Zweifel ebenso wie stets in Griechenland in der
rechten Verehrung der Landesgötter, nicht im Dogma sich
vollendend, wird schwerlich eine geordnete Gesammtvorstellung
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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 44. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/60>, abgerufen am 24.11.2024.
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