und römischen Stammes nur noch sparsam floss. Jetzt bricht die Entartung unaufhaltsam hervor. Die innere Entkräftung war es, die den äusseren Ansturm fremder Gewalten für die alte Welt so verhängnissvoll machte. Gründlicher und schneller brach, zum Vortheil für neue Entwicklungen, das Abgelebte im Westen zusammen, als im hellenisirten Osten. Nicht weil hier das Alte weniger morsch gewesen wäre. Die ermattende Hand, der sinkende Geist fühlt sich aus allen Aeusserungen letzter Lebensgluth heraus, in denen Kunst und Litteratur des absterbenden Griechenthums noch zu uns reden. Und die Verarmung der Lebenskräfte, aus denen einst Griechenland die Blüthe seines eigensten Wesens gezogen hatte, spricht sich in der veränderten Stellung aus, die jetzt der Einzelne zum Leben, die Gesammtheit des sichtbaren Lebens zu einem Reiche unsichtbar geahnter Mächte sich giebt. Der Individualismus hat seine Zeit gehabt. Nicht mehr der Befreiung des Ein- zelnen, seiner ethischen Wappnung gegen alles, was nicht er selbst ist und nicht im Bereich seines freien Entschlusses liegt, gilt das Streben. Er ist nicht mehr stark genug, soll nicht mehr stark genug sein, der eigenen selbstbewussten Vernunft zu vertrauen; die Autorität, eine Autorität die allen das Gleiche auferlegt, soll ihn leiten. Der Rationalismus ist todt. Seit dem Ausgang des zweiten Jahrhunderts macht sich eine religiöse Reaction stärker geltend; sie schiebt sich in den folgenden Zeiten immer weiter vor. Auch die Philosophie wird zuletzt eine Religion, aus dem Quell der Ahnung und Offenbarung gespeist. Die unsichtbare Welt gewinnt es über das durch einschränkende und mässigende Erfahrung be- grenzte Reich diesseitigen Lebens. Nicht mehr frohgemuth und gelassen sieht die Seele hinaus auf das, was hinter der Wolke des Todes sich verbergen möge. Das Leben schien eine Ergänzung zu fordern. Wie welk und greis war es ge- worden 1); eine Verjüngung auf dieser Erde schien ihm nicht
1)Mundus senescens. Cyprian ad Demetrian. 3 ff. Der Christ legt die Verarmung und Verkommenheit des Lebens den Heiden zur Last.
und römischen Stammes nur noch sparsam floss. Jetzt bricht die Entartung unaufhaltsam hervor. Die innere Entkräftung war es, die den äusseren Ansturm fremder Gewalten für die alte Welt so verhängnissvoll machte. Gründlicher und schneller brach, zum Vortheil für neue Entwicklungen, das Abgelebte im Westen zusammen, als im hellenisirten Osten. Nicht weil hier das Alte weniger morsch gewesen wäre. Die ermattende Hand, der sinkende Geist fühlt sich aus allen Aeusserungen letzter Lebensgluth heraus, in denen Kunst und Litteratur des absterbenden Griechenthums noch zu uns reden. Und die Verarmung der Lebenskräfte, aus denen einst Griechenland die Blüthe seines eigensten Wesens gezogen hatte, spricht sich in der veränderten Stellung aus, die jetzt der Einzelne zum Leben, die Gesammtheit des sichtbaren Lebens zu einem Reiche unsichtbar geahnter Mächte sich giebt. Der Individualismus hat seine Zeit gehabt. Nicht mehr der Befreiung des Ein- zelnen, seiner ethischen Wappnung gegen alles, was nicht er selbst ist und nicht im Bereich seines freien Entschlusses liegt, gilt das Streben. Er ist nicht mehr stark genug, soll nicht mehr stark genug sein, der eigenen selbstbewussten Vernunft zu vertrauen; die Autorität, eine Autorität die allen das Gleiche auferlegt, soll ihn leiten. Der Rationalismus ist todt. Seit dem Ausgang des zweiten Jahrhunderts macht sich eine religiöse Reaction stärker geltend; sie schiebt sich in den folgenden Zeiten immer weiter vor. Auch die Philosophie wird zuletzt eine Religion, aus dem Quell der Ahnung und Offenbarung gespeist. Die unsichtbare Welt gewinnt es über das durch einschränkende und mässigende Erfahrung be- grenzte Reich diesseitigen Lebens. Nicht mehr frohgemuth und gelassen sieht die Seele hinaus auf das, was hinter der Wolke des Todes sich verbergen möge. Das Leben schien eine Ergänzung zu fordern. Wie welk und greis war es ge- worden 1); eine Verjüngung auf dieser Erde schien ihm nicht
1)Mundus senescens. Cyprian ad Demetrian. 3 ff. Der Christ legt die Verarmung und Verkommenheit des Lebens den Heiden zur Last.
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und römischen Stammes nur noch sparsam floss. Jetzt bricht
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war es, die den äusseren Ansturm fremder Gewalten für die
alte Welt so verhängnissvoll machte. Gründlicher und schneller
brach, zum Vortheil für neue Entwicklungen, das Abgelebte
im Westen zusammen, als im hellenisirten Osten. Nicht weil
hier das Alte weniger morsch gewesen wäre. Die ermattende
Hand, der sinkende Geist fühlt sich aus allen Aeusserungen
letzter Lebensgluth heraus, in denen Kunst und Litteratur des
absterbenden Griechenthums noch zu uns reden. Und die
Verarmung der Lebenskräfte, aus denen einst Griechenland die
Blüthe seines eigensten Wesens gezogen hatte, spricht sich in
der veränderten Stellung aus, die jetzt der Einzelne zum
Leben, die Gesammtheit des sichtbaren Lebens zu einem Reiche
unsichtbar geahnter Mächte sich giebt. Der Individualismus
hat seine Zeit gehabt. Nicht mehr der Befreiung des Ein-
zelnen, seiner ethischen Wappnung gegen alles, was nicht er
selbst ist und nicht im Bereich seines freien Entschlusses liegt,
gilt das Streben. Er ist nicht mehr stark genug, soll nicht
mehr stark genug sein, der eigenen selbstbewussten Vernunft
zu vertrauen; die Autorität, eine Autorität die allen das
Gleiche auferlegt, soll ihn leiten. Der Rationalismus ist todt.
Seit dem Ausgang des zweiten Jahrhunderts macht sich eine
religiöse Reaction stärker geltend; sie schiebt sich in den
folgenden Zeiten immer weiter vor. Auch die Philosophie
wird zuletzt eine Religion, aus dem Quell der Ahnung und
Offenbarung gespeist. Die unsichtbare Welt gewinnt es über
das durch einschränkende und mässigende Erfahrung be-
grenzte Reich diesseitigen Lebens. Nicht mehr frohgemuth
und gelassen sieht die Seele hinaus auf das, was hinter der
Wolke des Todes sich verbergen möge. Das Leben schien
eine Ergänzung zu fordern. Wie welk und greis war es ge-
worden 1); eine Verjüngung auf dieser Erde schien ihm nicht
1) Mundus senescens. Cyprian ad Demetrian. 3 ff. Der Christ legt
die Verarmung und Verkommenheit des Lebens den Heiden zur Last.
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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 684. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/700>, abgerufen am 22.11.2024.
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