Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

Bild:
<< vorherige Seite

auch die Erinyen angerufen, welche unter der Erde diejenigen
strafen, die einen Meineid schwören 1). Nicht mit Unrecht hat
man in diesen Stellen einen Beweis dafür gefunden, "dass die
homerische Vorstellung von einem gespenstischen Scheinleben
der Seelen in der Unterwelt ohne Empfindung und Bewusstsein
nicht allgemeiner Volksglaube war" 2). Man muss aber wohl
hinzusetzen, dass im Glauben der homerischen Zeit der Ge-
danke einer Bestrafung der Meineidigen im Schattenreiche
kaum noch recht lebendig gewesen sein kann, da er den Sieg
jener, mit ihm unverträglichen Vorstellung von empfindungs-
loser Nichtigkeit der abgeschiedenen Seelen nicht hat hindern
können. In einer feierlichen Schwurformel hat sich (wie denn
in Formeln sich überall manches Alterthum, unlebendig, lange
fortschleppt) eine Anspielung auf jenen, homerischer Zeit fremd
gewordenen Glauben erhalten, auch ein Rudiment verschollener
Vorstellungsweise. Selbst damals übrigens, als man an eine
Bestrafung des Meineids im Jenseits noch wirklich und wört-
lich glaubte, mag man wohl Bewusstsein allen Seelen im Hades
zugestanden haben, keinenfalls aber hat man an eine Vergel-
tung irdischer Verfehlungen im Hades ganz im Allgemeinen
geglaubt, von denen etwa der Meineid nur ein einzelnes Bei-
spiel wäre. Denn an dem Meineidigen wird nicht etwa eine
besonders anstössige sittliche Verfehlung bestraft -- man darf
zweifeln, ob die Griechen eine solche in dem Meineid über-
haupt fanden und empfanden --, sondern er, und nicht irgend
ein anderer Frevler, verfällt den unterirdischen Quälgeistern
einfach darum, weil er im Schwur, um seinen Abscheu vor
Trug auf's Fürchterlichste zu bekräftigen, sich das Grässlichste,
die Peinigung im Reiche des Hades, aus dem kein Entrinnen ist,
selber angewünscht hat, wenn er falsch schwöre 3). Denen er

1) Il. 3, 279; 19, 260. Vergeblich sucht Nitzsch, Anm. zur Odyssee
III p. 184 f., beide Stellen durch Künste der Erklärung und Kritik nicht
das aussagen zu lassen, was sie doch deutlich sagen.
2) K. O. Müller, Aeschyl. Eumenid. p. 167.
3) Man bedenke auch, dass eine gesetzliche Strafe auf dem Meineid

auch die Erinyen angerufen, welche unter der Erde diejenigen
strafen, die einen Meineid schwören 1). Nicht mit Unrecht hat
man in diesen Stellen einen Beweis dafür gefunden, „dass die
homerische Vorstellung von einem gespenstischen Scheinleben
der Seelen in der Unterwelt ohne Empfindung und Bewusstsein
nicht allgemeiner Volksglaube war“ 2). Man muss aber wohl
hinzusetzen, dass im Glauben der homerischen Zeit der Ge-
danke einer Bestrafung der Meineidigen im Schattenreiche
kaum noch recht lebendig gewesen sein kann, da er den Sieg
jener, mit ihm unverträglichen Vorstellung von empfindungs-
loser Nichtigkeit der abgeschiedenen Seelen nicht hat hindern
können. In einer feierlichen Schwurformel hat sich (wie denn
in Formeln sich überall manches Alterthum, unlebendig, lange
fortschleppt) eine Anspielung auf jenen, homerischer Zeit fremd
gewordenen Glauben erhalten, auch ein Rudiment verschollener
Vorstellungsweise. Selbst damals übrigens, als man an eine
Bestrafung des Meineids im Jenseits noch wirklich und wört-
lich glaubte, mag man wohl Bewusstsein allen Seelen im Hades
zugestanden haben, keinenfalls aber hat man an eine Vergel-
tung irdischer Verfehlungen im Hades ganz im Allgemeinen
geglaubt, von denen etwa der Meineid nur ein einzelnes Bei-
spiel wäre. Denn an dem Meineidigen wird nicht etwa eine
besonders anstössige sittliche Verfehlung bestraft — man darf
zweifeln, ob die Griechen eine solche in dem Meineid über-
haupt fanden und empfanden —, sondern er, und nicht irgend
ein anderer Frevler, verfällt den unterirdischen Quälgeistern
einfach darum, weil er im Schwur, um seinen Abscheu vor
Trug auf’s Fürchterlichste zu bekräftigen, sich das Grässlichste,
die Peinigung im Reiche des Hades, aus dem kein Entrinnen ist,
selber angewünscht hat, wenn er falsch schwöre 3). Denen er

1) Il. 3, 279; 19, 260. Vergeblich sucht Nitzsch, Anm. zur Odyssee
III p. 184 f., beide Stellen durch Künste der Erklärung und Kritik nicht
das aussagen zu lassen, was sie doch deutlich sagen.
2) K. O. Müller, Aeschyl. Eumenid. p. 167.
3) Man bedenke auch, dass eine gesetzliche Strafe auf dem Meineid
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0076" n="60"/>
auch die Erinyen angerufen, welche unter der Erde diejenigen<lb/>
strafen, die einen Meineid schwören <note place="foot" n="1)">Il. 3, 279; 19, 260. Vergeblich sucht Nitzsch, <hi rendition="#i">Anm. zur Odyssee</hi><lb/>
III p. 184 f., beide Stellen durch Künste der Erklärung und Kritik nicht<lb/>
das aussagen zu lassen, was sie doch deutlich sagen.</note>. Nicht mit Unrecht hat<lb/>
man in diesen Stellen einen Beweis dafür gefunden, &#x201E;dass die<lb/>
homerische Vorstellung von einem gespenstischen Scheinleben<lb/>
der Seelen in der Unterwelt ohne Empfindung und Bewusstsein<lb/>
nicht allgemeiner Volksglaube war&#x201C; <note place="foot" n="2)">K. O. Müller, <hi rendition="#i">Aeschyl. Eumenid.</hi> p. 167.</note>. Man muss aber wohl<lb/>
hinzusetzen, dass im Glauben der homerischen Zeit der Ge-<lb/>
danke einer Bestrafung der Meineidigen im Schattenreiche<lb/>
kaum noch recht lebendig gewesen sein kann, da er den Sieg<lb/>
jener, mit ihm unverträglichen Vorstellung von empfindungs-<lb/>
loser Nichtigkeit der abgeschiedenen Seelen nicht hat hindern<lb/>
können. In einer feierlichen Schwurformel hat sich (wie denn<lb/>
in Formeln sich überall manches Alterthum, unlebendig, lange<lb/>
fortschleppt) eine Anspielung auf jenen, homerischer Zeit fremd<lb/>
gewordenen Glauben erhalten, auch ein Rudiment verschollener<lb/>
Vorstellungsweise. Selbst damals übrigens, als man an eine<lb/>
Bestrafung des Meineids im Jenseits noch wirklich und wört-<lb/>
lich glaubte, mag man wohl Bewusstsein allen Seelen im Hades<lb/>
zugestanden haben, keinenfalls aber hat man an eine Vergel-<lb/>
tung irdischer Verfehlungen im Hades ganz im Allgemeinen<lb/>
geglaubt, von denen etwa der Meineid nur ein einzelnes Bei-<lb/>
spiel wäre. Denn an dem Meineidigen wird nicht etwa eine<lb/>
besonders anstössige sittliche Verfehlung bestraft &#x2014; man darf<lb/>
zweifeln, ob die Griechen eine solche in dem Meineid über-<lb/>
haupt fanden und empfanden &#x2014;, sondern er, und nicht irgend<lb/>
ein anderer Frevler, verfällt den unterirdischen Quälgeistern<lb/>
einfach darum, weil er im Schwur, um seinen Abscheu vor<lb/>
Trug auf&#x2019;s Fürchterlichste zu bekräftigen, sich das Grässlichste,<lb/>
die Peinigung im Reiche des Hades, aus dem kein Entrinnen ist,<lb/>
selber angewünscht hat, wenn er falsch schwöre <note xml:id="seg2pn_11_1" next="#seg2pn_11_2" place="foot" n="3)">Man bedenke auch, dass eine gesetzliche Strafe auf dem Meineid</note>. Denen er<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[60/0076] auch die Erinyen angerufen, welche unter der Erde diejenigen strafen, die einen Meineid schwören 1). Nicht mit Unrecht hat man in diesen Stellen einen Beweis dafür gefunden, „dass die homerische Vorstellung von einem gespenstischen Scheinleben der Seelen in der Unterwelt ohne Empfindung und Bewusstsein nicht allgemeiner Volksglaube war“ 2). Man muss aber wohl hinzusetzen, dass im Glauben der homerischen Zeit der Ge- danke einer Bestrafung der Meineidigen im Schattenreiche kaum noch recht lebendig gewesen sein kann, da er den Sieg jener, mit ihm unverträglichen Vorstellung von empfindungs- loser Nichtigkeit der abgeschiedenen Seelen nicht hat hindern können. In einer feierlichen Schwurformel hat sich (wie denn in Formeln sich überall manches Alterthum, unlebendig, lange fortschleppt) eine Anspielung auf jenen, homerischer Zeit fremd gewordenen Glauben erhalten, auch ein Rudiment verschollener Vorstellungsweise. Selbst damals übrigens, als man an eine Bestrafung des Meineids im Jenseits noch wirklich und wört- lich glaubte, mag man wohl Bewusstsein allen Seelen im Hades zugestanden haben, keinenfalls aber hat man an eine Vergel- tung irdischer Verfehlungen im Hades ganz im Allgemeinen geglaubt, von denen etwa der Meineid nur ein einzelnes Bei- spiel wäre. Denn an dem Meineidigen wird nicht etwa eine besonders anstössige sittliche Verfehlung bestraft — man darf zweifeln, ob die Griechen eine solche in dem Meineid über- haupt fanden und empfanden —, sondern er, und nicht irgend ein anderer Frevler, verfällt den unterirdischen Quälgeistern einfach darum, weil er im Schwur, um seinen Abscheu vor Trug auf’s Fürchterlichste zu bekräftigen, sich das Grässlichste, die Peinigung im Reiche des Hades, aus dem kein Entrinnen ist, selber angewünscht hat, wenn er falsch schwöre 3). Denen er 1) Il. 3, 279; 19, 260. Vergeblich sucht Nitzsch, Anm. zur Odyssee III p. 184 f., beide Stellen durch Künste der Erklärung und Kritik nicht das aussagen zu lassen, was sie doch deutlich sagen. 2) K. O. Müller, Aeschyl. Eumenid. p. 167. 3) Man bedenke auch, dass eine gesetzliche Strafe auf dem Meineid

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/76
Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/76>, abgerufen am 24.11.2024.