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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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sich gelobt hat, den Höllengeistern verfällt er, wenn er Meineid
schwört. Glaube an die bindende Zauberkraft solcher Ver-
wünschungen, nicht absonderliche sittliche Hochhaltung der
Wahrheit, die dem höheren Alterthum ganz fremd ist, gab
dem Eid seine Furchtbarkeit.

5.

Ein letztes Anzeichen der Zähigkeit, mit welcher die Sitte
den sie begründenden Glauben überlebt, bieten die homerischen
Gedichte in der Erzählung des Odysseus, wie er, von dem
Kikonenland fliehend, nicht eher abgefahren sei, als bis er die
im Kampf mit den Kikonen erschlagenen Gefährten dreimal
gerufen habe (Od. 9, 65. 66). Der Sinn solcher Anrufung
der Todten wird aus einzelnen Anspielungen auf die gleiche
Sitte in späterer Litteratur deutlich. Die Seele der in der
Fremde Gefallenen soll abgerufen werden 1), richtig vollzogen
zwingt sie der Ruf des Freundes ihm zu folgen nach der
Heimath, wo ein "leeres Grabmal" sie erwartet, wie es auch
bei Homer regelmässig den Freunden errichtet wird, deren
Leichen zu richtiger Bestattung zu erreichen unmöglich ist 2).

nicht stand, in Griechenland so wenig wie in Rom. Sie war nicht nöthig,
da man unmittelbare Bestrafung durch die Gottheit, welcher der Schwö-
rende sich selbst gelobt hatte, erwartete (lehrreich sind die Worte des
Agamemnon bei dem Treubruch der Troer, Il. 4, 158 ff.), im Leben, und
auch da schon durch die Höllengeister, die Erinyen (Hesiod E. 802 ff.),
oder nach dem Tode.
1) Ganz richtig Eustath. zu Od. 9, 65 p. 1614/5. Er erinnert an
Pindar, Pyth. 4, 159: keletai gar ean psukhan komixai Phrixos elthontas pros
Aieta thalamous, zu welcher Stelle der Scholiast wieder die homerische
vergleicht. In der That ist der vorausgesetzte Glaube an beiden Stellen
der gleiche: ton apolomenon en xene ge tas psukhas eukhais tisin epekalounto
apopleontes oi philoi eis ten ekeinon patrida kai edokoun katagein autous pros
tous oikeious (Schol. Od. 9, 65 f. Schol. H. zu 9, 62). Ganz vergeblich
sträubt sich Nitzsch, Anm. III p. 17/18, in dieser Begehung die Erfüllung
einer religiösen Pflicht zu erkennen; Odysseus genüge nur einem "Bedürf-
niss des Herzens" u. s. w. So verschlämmt man durch "sittliche" Aus-
deutung den eigentlichen Sinn ritualer Handlungen.
2) Als allgemeine Sitte setzt die Errichtung eines Kenotaphs für in
der Fremde gestorbene und den Angehörigen unerreichbare Verwandte

sich gelobt hat, den Höllengeistern verfällt er, wenn er Meineid
schwört. Glaube an die bindende Zauberkraft solcher Ver-
wünschungen, nicht absonderliche sittliche Hochhaltung der
Wahrheit, die dem höheren Alterthum ganz fremd ist, gab
dem Eid seine Furchtbarkeit.

5.

Ein letztes Anzeichen der Zähigkeit, mit welcher die Sitte
den sie begründenden Glauben überlebt, bieten die homerischen
Gedichte in der Erzählung des Odysseus, wie er, von dem
Kikonenland fliehend, nicht eher abgefahren sei, als bis er die
im Kampf mit den Kikonen erschlagenen Gefährten dreimal
gerufen habe (Od. 9, 65. 66). Der Sinn solcher Anrufung
der Todten wird aus einzelnen Anspielungen auf die gleiche
Sitte in späterer Litteratur deutlich. Die Seele der in der
Fremde Gefallenen soll abgerufen werden 1), richtig vollzogen
zwingt sie der Ruf des Freundes ihm zu folgen nach der
Heimath, wo ein „leeres Grabmal“ sie erwartet, wie es auch
bei Homer regelmässig den Freunden errichtet wird, deren
Leichen zu richtiger Bestattung zu erreichen unmöglich ist 2).

nicht stand, in Griechenland so wenig wie in Rom. Sie war nicht nöthig,
da man unmittelbare Bestrafung durch die Gottheit, welcher der Schwö-
rende sich selbst gelobt hatte, erwartete (lehrreich sind die Worte des
Agamemnon bei dem Treubruch der Troer, Il. 4, 158 ff.), im Leben, und
auch da schon durch die Höllengeister, die Erinyen (Hesiod E. 802 ff.),
oder nach dem Tode.
1) Ganz richtig Eustath. zu Od. 9, 65 p. 1614/5. Er erinnert an
Pindar, Pyth. 4, 159: κέλεται γὰρ έὰν ψυχὰν κομίξαι Φρίξος ἐλϑόντας πρὸς
Αἰήτα ϑαλάμους, zu welcher Stelle der Scholiast wieder die homerische
vergleicht. In der That ist der vorausgesetzte Glaube an beiden Stellen
der gleiche: τῶν ἀπολομένων ἐν ξένῃ γῇ τὰς ψυχὰς εὐχαῖς τισιν ἐπεκαλοῦντο
ἀποπλέοντες οἱ φίλοι εἰς τὴν ἐκείνων πατρίδα καὶ ἐδόκουν κατάγειν αὐτοὺς πρὸς
τοὺς οἰκείους (Schol. Od. 9, 65 f. Schol. H. zu 9, 62). Ganz vergeblich
sträubt sich Nitzsch, Anm. III p. 17/18, in dieser Begehung die Erfüllung
einer religiösen Pflicht zu erkennen; Odysseus genüge nur einem „Bedürf-
niss des Herzens“ u. s. w. So verschlämmt man durch „sittliche“ Aus-
deutung den eigentlichen Sinn ritualer Handlungen.
2) Als allgemeine Sitte setzt die Errichtung eines Kenotaphs für in
der Fremde gestorbene und den Angehörigen unerreichbare Verwandte
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[61/0077] sich gelobt hat, den Höllengeistern verfällt er, wenn er Meineid schwört. Glaube an die bindende Zauberkraft solcher Ver- wünschungen, nicht absonderliche sittliche Hochhaltung der Wahrheit, die dem höheren Alterthum ganz fremd ist, gab dem Eid seine Furchtbarkeit. 5. Ein letztes Anzeichen der Zähigkeit, mit welcher die Sitte den sie begründenden Glauben überlebt, bieten die homerischen Gedichte in der Erzählung des Odysseus, wie er, von dem Kikonenland fliehend, nicht eher abgefahren sei, als bis er die im Kampf mit den Kikonen erschlagenen Gefährten dreimal gerufen habe (Od. 9, 65. 66). Der Sinn solcher Anrufung der Todten wird aus einzelnen Anspielungen auf die gleiche Sitte in späterer Litteratur deutlich. Die Seele der in der Fremde Gefallenen soll abgerufen werden 1), richtig vollzogen zwingt sie der Ruf des Freundes ihm zu folgen nach der Heimath, wo ein „leeres Grabmal“ sie erwartet, wie es auch bei Homer regelmässig den Freunden errichtet wird, deren Leichen zu richtiger Bestattung zu erreichen unmöglich ist 2). 3) 1) Ganz richtig Eustath. zu Od. 9, 65 p. 1614/5. Er erinnert an Pindar, Pyth. 4, 159: κέλεται γὰρ έὰν ψυχὰν κομίξαι Φρίξος ἐλϑόντας πρὸς Αἰήτα ϑαλάμους, zu welcher Stelle der Scholiast wieder die homerische vergleicht. In der That ist der vorausgesetzte Glaube an beiden Stellen der gleiche: τῶν ἀπολομένων ἐν ξένῃ γῇ τὰς ψυχὰς εὐχαῖς τισιν ἐπεκαλοῦντο ἀποπλέοντες οἱ φίλοι εἰς τὴν ἐκείνων πατρίδα καὶ ἐδόκουν κατάγειν αὐτοὺς πρὸς τοὺς οἰκείους (Schol. Od. 9, 65 f. Schol. H. zu 9, 62). Ganz vergeblich sträubt sich Nitzsch, Anm. III p. 17/18, in dieser Begehung die Erfüllung einer religiösen Pflicht zu erkennen; Odysseus genüge nur einem „Bedürf- niss des Herzens“ u. s. w. So verschlämmt man durch „sittliche“ Aus- deutung den eigentlichen Sinn ritualer Handlungen. 2) Als allgemeine Sitte setzt die Errichtung eines Kenotaphs für in der Fremde gestorbene und den Angehörigen unerreichbare Verwandte 3) nicht stand, in Griechenland so wenig wie in Rom. Sie war nicht nöthig, da man unmittelbare Bestrafung durch die Gottheit, welcher der Schwö- rende sich selbst gelobt hatte, erwartete (lehrreich sind die Worte des Agamemnon bei dem Treubruch der Troer, Il. 4, 158 ff.), im Leben, und auch da schon durch die Höllengeister, die Erinyen (Hesiod E. 802 ff.), oder nach dem Tode.

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/77>, abgerufen am 24.11.2024.