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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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gebannt? Es besteht der Glaube, dass auch wohl zu sterb-
lichen Mädchen ein Gott vom Himmel herabkommen und sie
für alle Zeit als seine Gattin sich holen könne (Od. 6, 280 f.) 1).

Ganymed, den schönsten der sterblichen Menschen, haben
die Götter in den Olymp entrückt 2), damit er als Mundschenk
des Zeus unter den Unsterblichen wohne (Il. 20, 232 ff.). Er
war ein Sprosse des alten troischen Königsgeschlechtes; eben
diesem gehört auch Tithonos an, den schon Ilias und Odyssee
als den Gatten der Eos kennen: von seiner Seite erhebt sich
die Göttin morgens, um das Licht des Tages Göttern und
Menschen zu bringen 3). Es scheint, dass sie den Geliebten
entrückt hat, nicht in den Olymp, sondern zu den fernen
Wohnplätzen am Okeanos, von wo sie morgens auffährt 4).
Eos auch war es, die einst den schönen Orion geraubt hatte,
und trotz des Neides der übrigen Götter sich seiner Liebe
erfreute, bis Artemis ihn "auf Ortygie" mit gelindem Geschoss
tödtete (Od. 5, 122 ff.). Alte Sternsagen mögen hier zu
Grunde liegen, die eigentlich Vorgänge am Morgenhimmel
mythisch wiederspiegeln. Aber wie in solchen Sagen die Ele-
mente, die Himmelserscheinungen belebt und nach menschlicher

1) Nur zeitweilige Entrückung (anerpase) der Marpessa durch
Apollo: Il. 9, 564.
2) Den Ganymedes anerpase thespis aella, hymn. Ven. 208, sowie
die thuella (= Arpuia) die Töchter des Pandareos. Den Adler setzte
erst spätere Dichtung ein.
3) Il. 11, 1. Od. 5, 1.
4) Eos -- ap Okeanoio Roaon ornuth, in athanatoisi phoos pheroi ede
brotoisin, Il. 19, 1 f.; vgl. Od. 23, 244 (h. Mercur. 184 f). So denn hymn.
Ven. 225 ff. von Tithonos: Eoi terpomenos khrusothrono erigeneie naie par
Okeanoio Roes epi peirasi gaies, völlig homerisch. Es scheint, dass das
Wundereiland Aiaia für den Wohnplatz der Eos (und des Tithonos) galt:
Od. 12, 3: -- neson t Aiaien, othi t Eous erigeneies oikia kai khoroi eisi
kai antolai eelioio. Wie man die schon im Alterthum vielverhandelte
Schwierigkeit lösen könne, diesen Vers mit der, in der Odyssee zweifellos
angenommenen westlichen Lage von Aiaia in Einklang zu bringen, unter-
suche ich hier nicht: gewiss ist nur, dass der erste Dichter dieses Verses
Aiaia im Osten suchte; nur mit schlimmsten Auslegerkünsten kann man
den Ort des "Aufgangs der Sonne" und der "Wohnung der Morgen-
röthe" in den Westen schieben.

gebannt? Es besteht der Glaube, dass auch wohl zu sterb-
lichen Mädchen ein Gott vom Himmel herabkommen und sie
für alle Zeit als seine Gattin sich holen könne (Od. 6, 280 f.) 1).

Ganymed, den schönsten der sterblichen Menschen, haben
die Götter in den Olymp entrückt 2), damit er als Mundschenk
des Zeus unter den Unsterblichen wohne (Il. 20, 232 ff.). Er
war ein Sprosse des alten troischen Königsgeschlechtes; eben
diesem gehört auch Tithonos an, den schon Ilias und Odyssee
als den Gatten der Eos kennen: von seiner Seite erhebt sich
die Göttin morgens, um das Licht des Tages Göttern und
Menschen zu bringen 3). Es scheint, dass sie den Geliebten
entrückt hat, nicht in den Olymp, sondern zu den fernen
Wohnplätzen am Okeanos, von wo sie morgens auffährt 4).
Eos auch war es, die einst den schönen Orion geraubt hatte,
und trotz des Neides der übrigen Götter sich seiner Liebe
erfreute, bis Artemis ihn „auf Ortygie“ mit gelindem Geschoss
tödtete (Od. 5, 122 ff.). Alte Sternsagen mögen hier zu
Grunde liegen, die eigentlich Vorgänge am Morgenhimmel
mythisch wiederspiegeln. Aber wie in solchen Sagen die Ele-
mente, die Himmelserscheinungen belebt und nach menschlicher

1) Nur zeitweilige Entrückung (ἀνήρπασε) der Marpessa durch
Apollo: Il. 9, 564.
2) Den Ganymedes ἀνήρπασε ϑέσπις ἄελλα, hymn. Ven. 208, sowie
die ϑύελλα (= Ἅρπυια) die Töchter des Pandareos. Den Adler setzte
erst spätere Dichtung ein.
3) Il. 11, 1. Od. 5, 1.
4) Ἠὼς — ἀπ̕ Ὠκεανοῖο ῥοάων ὤρνυϑ̕, ἵν̕ ἀϑανάτοισι φόως φέροι ὴδὲ
βροτοῖσιν, Il. 19, 1 f.; vgl. Od. 23, 244 (h. Mercur. 184 f). So denn hymn.
Ven. 225 ff. von Tithonos: Ἠοῖ τερπόμενος χρυσοϑρόνῳ ὴριγενείῃ ναῖε παρ̕
Ὠκεανοῖο ῥοῇς ἐπὶ πείρασι γαίης, völlig homerisch. Es scheint, dass das
Wundereiland Aiaia für den Wohnplatz der Eos (und des Tithonos) galt:
Od. 12, 3: — νῆσόν τ̕ Αἰαίην, ὅϑι τ̕ Ἠοῦς ὴριγενείης οἰκία καὶ χοροί εἰσι
καὶ ἀντολαὶ ἠελίοιο. Wie man die schon im Alterthum vielverhandelte
Schwierigkeit lösen könne, diesen Vers mit der, in der Odyssee zweifellos
angenommenen westlichen Lage von Aiaia in Einklang zu bringen, unter-
suche ich hier nicht: gewiss ist nur, dass der erste Dichter dieses Verses
Aiaia im Osten suchte; nur mit schlimmsten Auslegerkünsten kann man
den Ort des „Aufgangs der Sonne“ und der „Wohnung der Morgen-
röthe“ in den Westen schieben.
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[69/0085] gebannt? Es besteht der Glaube, dass auch wohl zu sterb- lichen Mädchen ein Gott vom Himmel herabkommen und sie für alle Zeit als seine Gattin sich holen könne (Od. 6, 280 f.) 1). Ganymed, den schönsten der sterblichen Menschen, haben die Götter in den Olymp entrückt 2), damit er als Mundschenk des Zeus unter den Unsterblichen wohne (Il. 20, 232 ff.). Er war ein Sprosse des alten troischen Königsgeschlechtes; eben diesem gehört auch Tithonos an, den schon Ilias und Odyssee als den Gatten der Eos kennen: von seiner Seite erhebt sich die Göttin morgens, um das Licht des Tages Göttern und Menschen zu bringen 3). Es scheint, dass sie den Geliebten entrückt hat, nicht in den Olymp, sondern zu den fernen Wohnplätzen am Okeanos, von wo sie morgens auffährt 4). Eos auch war es, die einst den schönen Orion geraubt hatte, und trotz des Neides der übrigen Götter sich seiner Liebe erfreute, bis Artemis ihn „auf Ortygie“ mit gelindem Geschoss tödtete (Od. 5, 122 ff.). Alte Sternsagen mögen hier zu Grunde liegen, die eigentlich Vorgänge am Morgenhimmel mythisch wiederspiegeln. Aber wie in solchen Sagen die Ele- mente, die Himmelserscheinungen belebt und nach menschlicher 1) Nur zeitweilige Entrückung (ἀνήρπασε) der Marpessa durch Apollo: Il. 9, 564. 2) Den Ganymedes ἀνήρπασε ϑέσπις ἄελλα, hymn. Ven. 208, sowie die ϑύελλα (= Ἅρπυια) die Töchter des Pandareos. Den Adler setzte erst spätere Dichtung ein. 3) Il. 11, 1. Od. 5, 1. 4) Ἠὼς — ἀπ̕ Ὠκεανοῖο ῥοάων ὤρνυϑ̕, ἵν̕ ἀϑανάτοισι φόως φέροι ὴδὲ βροτοῖσιν, Il. 19, 1 f.; vgl. Od. 23, 244 (h. Mercur. 184 f). So denn hymn. Ven. 225 ff. von Tithonos: Ἠοῖ τερπόμενος χρυσοϑρόνῳ ὴριγενείῃ ναῖε παρ̕ Ὠκεανοῖο ῥοῇς ἐπὶ πείρασι γαίης, völlig homerisch. Es scheint, dass das Wundereiland Aiaia für den Wohnplatz der Eos (und des Tithonos) galt: Od. 12, 3: — νῆσόν τ̕ Αἰαίην, ὅϑι τ̕ Ἠοῦς ὴριγενείης οἰκία καὶ χοροί εἰσι καὶ ἀντολαὶ ἠελίοιο. Wie man die schon im Alterthum vielverhandelte Schwierigkeit lösen könne, diesen Vers mit der, in der Odyssee zweifellos angenommenen westlichen Lage von Aiaia in Einklang zu bringen, unter- suche ich hier nicht: gewiss ist nur, dass der erste Dichter dieses Verses Aiaia im Osten suchte; nur mit schlimmsten Auslegerkünsten kann man den Ort des „Aufgangs der Sonne“ und der „Wohnung der Morgen- röthe“ in den Westen schieben.

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/85>, abgerufen am 24.11.2024.