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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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Art beseelt gedacht waren, so sind, dem allgemeinen Zuge der
Sagenentwicklung folgend, dem homerischen Dichter die Stern-
geister längst zu irdischen Helden und Jünglingen herabge-
sunken: wenn die Göttin den Orion in ihr Reich erhebt, so
kann, nach dem Glauben der Zeit (und hierauf allein kommt
es hier an) dasselbe durch Gunst eines Gottes jedem Sterb-
lichen begegnen. Schon eine einfache Nachbildung der gleichen
Sage im rein und ursprünglich menschlichen Gebiete ist die
Erzählung von Kleitos, einem Jüngling aus dem Geschlechte
des Sehers Melampus, den Eos entrafft hat, um seiner Schön-
heit willen, damit er unter den Göttern wohne (Od. 15, 249 f.) 1).

2.

Wenn also Menelaos lebendig entrückt wird nach einem
fernen Lande an den Grenzen der Erde, um dort in ewiger Selig-
keit zu leben, so ist das zwar ein Wunder, aber ein solches, das in
homerischem Glauben seine Rechtfertigung und seine Vorbilder
findet. Neu ist nur, dass ihm ein Aufenthalt bestimmt wird, nicht
im Götterlande, dem rechten Reiche der Ewigkeit, auch nicht
(wie dem Tithonos, nach Kalypsos Wunsch dem Odysseus) in der
Umgebung eines Gottes, sondern in einem besonderen Wohn-
platz, eigens den Entrückten bestimmt, dem elysischen Gefilde.
Auch dies scheint keine Erfindung des Dichters jener Zeilen
zu sein. Das "Land der Hingegangenen" 2) und dessen Lieb-

1) Vgl. Anhang 8.
2) Unter allerlei misslungenen Versuchen der Alten das Wort
Elusion etymologisch abzuleiten (Schol. Od. d 563, Eustath. ibid. Hesych.
s. v., u. s. w.; auch Celsus ap. Orig. adv. Cels. VII 28 p. 43 L.) doch
auch die richtige: Et. M. 428, 36: para ten eleusin, entha oi eusebeis para-
ginontai. -- Streitig scheint unter Grammatikern gewesen zu sein, ob
Menelaos im Elysium ewig leben werde. Dass er lebendig, ohne Tren-
nung der Psyche vom Leibe, dahin gelange, gaben alle zu, aber Ueber-
weise meinten, dort werde dann eben auch er sterben, nur dass er nicht
in Argos sterben werde, sei ihm verkündigt, nicht dass er überhaupt
nicht sterben solle: so namentlich Etym. Gud. 242, 2 ff. Und ähnlich
doch wohl diejenigen, die Elusion ableiteten davon, dass dort die psukhai
lelumenai ton somaton diagousin: Eustath. 1509, 29. Etym. M. etc.

Art beseelt gedacht waren, so sind, dem allgemeinen Zuge der
Sagenentwicklung folgend, dem homerischen Dichter die Stern-
geister längst zu irdischen Helden und Jünglingen herabge-
sunken: wenn die Göttin den Orion in ihr Reich erhebt, so
kann, nach dem Glauben der Zeit (und hierauf allein kommt
es hier an) dasselbe durch Gunst eines Gottes jedem Sterb-
lichen begegnen. Schon eine einfache Nachbildung der gleichen
Sage im rein und ursprünglich menschlichen Gebiete ist die
Erzählung von Kleitos, einem Jüngling aus dem Geschlechte
des Sehers Melampus, den Eos entrafft hat, um seiner Schön-
heit willen, damit er unter den Göttern wohne (Od. 15, 249 f.) 1).

2.

Wenn also Menelaos lebendig entrückt wird nach einem
fernen Lande an den Grenzen der Erde, um dort in ewiger Selig-
keit zu leben, so ist das zwar ein Wunder, aber ein solches, das in
homerischem Glauben seine Rechtfertigung und seine Vorbilder
findet. Neu ist nur, dass ihm ein Aufenthalt bestimmt wird, nicht
im Götterlande, dem rechten Reiche der Ewigkeit, auch nicht
(wie dem Tithonos, nach Kalypsos Wunsch dem Odysseus) in der
Umgebung eines Gottes, sondern in einem besonderen Wohn-
platz, eigens den Entrückten bestimmt, dem elysischen Gefilde.
Auch dies scheint keine Erfindung des Dichters jener Zeilen
zu sein. Das „Land der Hingegangenen“ 2) und dessen Lieb-

1) Vgl. Anhang 8.
2) Unter allerlei misslungenen Versuchen der Alten das Wort
Ἠλύσιον etymologisch abzuleiten (Schol. Od. δ 563, Eustath. ibid. Hesych.
s. v., u. s. w.; auch Celsus ap. Orig. adv. Cels. VII 28 p. 43 L.) doch
auch die richtige: Et. M. 428, 36: παρὰ τὴν ἔλευσιν, ἔνϑα οἱ εὐσεβεῖς παρα-
γίνονται. — Streitig scheint unter Grammatikern gewesen zu sein, ob
Menelaos im Elysium ewig leben werde. Dass er lebendig, ohne Tren-
nung der Psyche vom Leibe, dahin gelange, gaben alle zu, aber Ueber-
weise meinten, dort werde dann eben auch er sterben, nur dass er nicht
in Argos sterben werde, sei ihm verkündigt, nicht dass er überhaupt
nicht sterben solle: so namentlich Etym. Gud. 242, 2 ff. Und ähnlich
doch wohl diejenigen, die Ἠλύσιον ableiteten davon, dass dort die ψυχαὶ
λελυμέναι τῶν σωμάτων διάγουσιν: Eustath. 1509, 29. Etym. M. etc.
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[70/0086] Art beseelt gedacht waren, so sind, dem allgemeinen Zuge der Sagenentwicklung folgend, dem homerischen Dichter die Stern- geister längst zu irdischen Helden und Jünglingen herabge- sunken: wenn die Göttin den Orion in ihr Reich erhebt, so kann, nach dem Glauben der Zeit (und hierauf allein kommt es hier an) dasselbe durch Gunst eines Gottes jedem Sterb- lichen begegnen. Schon eine einfache Nachbildung der gleichen Sage im rein und ursprünglich menschlichen Gebiete ist die Erzählung von Kleitos, einem Jüngling aus dem Geschlechte des Sehers Melampus, den Eos entrafft hat, um seiner Schön- heit willen, damit er unter den Göttern wohne (Od. 15, 249 f.) 1). 2. Wenn also Menelaos lebendig entrückt wird nach einem fernen Lande an den Grenzen der Erde, um dort in ewiger Selig- keit zu leben, so ist das zwar ein Wunder, aber ein solches, das in homerischem Glauben seine Rechtfertigung und seine Vorbilder findet. Neu ist nur, dass ihm ein Aufenthalt bestimmt wird, nicht im Götterlande, dem rechten Reiche der Ewigkeit, auch nicht (wie dem Tithonos, nach Kalypsos Wunsch dem Odysseus) in der Umgebung eines Gottes, sondern in einem besonderen Wohn- platz, eigens den Entrückten bestimmt, dem elysischen Gefilde. Auch dies scheint keine Erfindung des Dichters jener Zeilen zu sein. Das „Land der Hingegangenen“ 2) und dessen Lieb- 1) Vgl. Anhang 8. 2) Unter allerlei misslungenen Versuchen der Alten das Wort Ἠλύσιον etymologisch abzuleiten (Schol. Od. δ 563, Eustath. ibid. Hesych. s. v., u. s. w.; auch Celsus ap. Orig. adv. Cels. VII 28 p. 43 L.) doch auch die richtige: Et. M. 428, 36: παρὰ τὴν ἔλευσιν, ἔνϑα οἱ εὐσεβεῖς παρα- γίνονται. — Streitig scheint unter Grammatikern gewesen zu sein, ob Menelaos im Elysium ewig leben werde. Dass er lebendig, ohne Tren- nung der Psyche vom Leibe, dahin gelange, gaben alle zu, aber Ueber- weise meinten, dort werde dann eben auch er sterben, nur dass er nicht in Argos sterben werde, sei ihm verkündigt, nicht dass er überhaupt nicht sterben solle: so namentlich Etym. Gud. 242, 2 ff. Und ähnlich doch wohl diejenigen, die Ἠλύσιον ableiteten davon, dass dort die ψυχαὶ λελυμέναι τῶν σωμάτων διάγουσιν: Eustath. 1509, 29. Etym. M. etc.

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 70. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/86>, abgerufen am 24.11.2024.