kennt, in einem Lande der Verheissung der Hoffnung gezeigt werden? Nichts derartiges kündigen jene Verse an. Mene- laos, in keiner der Tugenden, die das homerische Zeitalter am höchsten schätzt, sonderlich ausgezeichnet 1), soll nur darum in's Elysium entrückt werden, weil er Helena zur Gattin hat und des Zeus Eidam ist: so verkündigt Proteus es ihm. Warum Rhadamanthys an den Ort der Seligkeit gelangt ist, erfahren wir nicht, auch nicht durch ein Beiwort, das ihn etwa, wie es bei späteren Dichtern fast üblich ist, als den "Gerechten" be- zeichnete. Wir dürfen uns aber erinnern, dass er, als Bruder des Minos, ein Sohn des Zeus ist 2). Nicht Tugend und Ver- dienst geben ein Anrecht auf die zukünftige Seligkeit; von einem Anrecht ist überhaupt keine Spur: wie die Erhaltung der Psyche beim Leibe und damit die Abwendung des Todes nur durch ein Wunder, einen Zauber, also nur in einem Aus- nahmefall, geschehen kann, so bleibt die Entrückung in das "Land des Hingangs" ein Privilegium einzelner von der Gott- heit besonders Begnadeter, aus dem man durchaus keinen Glau- benssatz von allgemeiner Gültigkeit ableiten darf. Am ersten liesse die, Einzelnen gewährte wunderbare Erhaltung des Lebens im Lande seliger Ruhe sich vergleichen mit der ebenso wunder- baren Erhaltung des Bewusstseins jener drei Götterfeinde im Hades, von denen die Nekyia erzählt. Die Büsser im Erebos, die Seligen im Elysium entsprechen einander; beide stellen Ausnahmen dar, welche die Regel nicht aufheben, den homeri- schen Glauben im Ganzen nicht beeinträchtigen. Die Allmacht der Götter hat dort wie hier das Gesetz durchbrochen. Die aber, welche besondere Göttergunst dem Tode enthebt und in's Elysium entrückt, sind nahe Verwandte der Götter; hierin allein scheint die Gnade ihren Grund zu haben 3). Wenn irgend
1) -- malthakos aikhmetes Il. 17, 588.
2) Il. 14, 321. 322.
3) Man könnte sogar den Verdacht hegen, dass Menelaos zu ewigem Leben entrückt werde, nicht nur weil er Helena, des Zeus Tochter zur Gattin hat: ounek ekheis Elenen, wie ihm Proteus sagt, sondern auch erst
kennt, in einem Lande der Verheissung der Hoffnung gezeigt werden? Nichts derartiges kündigen jene Verse an. Mene- laos, in keiner der Tugenden, die das homerische Zeitalter am höchsten schätzt, sonderlich ausgezeichnet 1), soll nur darum in’s Elysium entrückt werden, weil er Helena zur Gattin hat und des Zeus Eidam ist: so verkündigt Proteus es ihm. Warum Rhadamanthys an den Ort der Seligkeit gelangt ist, erfahren wir nicht, auch nicht durch ein Beiwort, das ihn etwa, wie es bei späteren Dichtern fast üblich ist, als den „Gerechten“ be- zeichnete. Wir dürfen uns aber erinnern, dass er, als Bruder des Minos, ein Sohn des Zeus ist 2). Nicht Tugend und Ver- dienst geben ein Anrecht auf die zukünftige Seligkeit; von einem Anrecht ist überhaupt keine Spur: wie die Erhaltung der Psyche beim Leibe und damit die Abwendung des Todes nur durch ein Wunder, einen Zauber, also nur in einem Aus- nahmefall, geschehen kann, so bleibt die Entrückung in das „Land des Hingangs“ ein Privilegium einzelner von der Gott- heit besonders Begnadeter, aus dem man durchaus keinen Glau- benssatz von allgemeiner Gültigkeit ableiten darf. Am ersten liesse die, Einzelnen gewährte wunderbare Erhaltung des Lebens im Lande seliger Ruhe sich vergleichen mit der ebenso wunder- baren Erhaltung des Bewusstseins jener drei Götterfeinde im Hades, von denen die Nekyia erzählt. Die Büsser im Erebos, die Seligen im Elysium entsprechen einander; beide stellen Ausnahmen dar, welche die Regel nicht aufheben, den homeri- schen Glauben im Ganzen nicht beeinträchtigen. Die Allmacht der Götter hat dort wie hier das Gesetz durchbrochen. Die aber, welche besondere Göttergunst dem Tode enthebt und in’s Elysium entrückt, sind nahe Verwandte der Götter; hierin allein scheint die Gnade ihren Grund zu haben 3). Wenn irgend
1) — μαλϑακὸς αἰχμητής Il. 17, 588.
2) Il. 14, 321. 322.
3) Man könnte sogar den Verdacht hegen, dass Menelaos zu ewigem Leben entrückt werde, nicht nur weil er Helena, des Zeus Tochter zur Gattin hat: οὕνεκ̕ ἔχεις Ἑλένην, wie ihm Proteus sagt, sondern auch erst
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höchsten schätzt, sonderlich ausgezeichnet 1), soll nur darum
in’s Elysium entrückt werden, weil er Helena zur Gattin hat
und des Zeus Eidam ist: so verkündigt Proteus es ihm. Warum
Rhadamanthys an den Ort der Seligkeit gelangt ist, erfahren
wir nicht, auch nicht durch ein Beiwort, das ihn etwa, wie es
bei späteren Dichtern fast üblich ist, als den „Gerechten“ be-
zeichnete. Wir dürfen uns aber erinnern, dass er, als Bruder
des Minos, ein Sohn des Zeus ist 2). Nicht Tugend und Ver-
dienst geben ein Anrecht auf die zukünftige Seligkeit; von
einem Anrecht ist überhaupt keine Spur: wie die Erhaltung
der Psyche beim Leibe und damit die Abwendung des Todes
nur durch ein Wunder, einen Zauber, also nur in einem Aus-
nahmefall, geschehen kann, so bleibt die Entrückung in das
„Land des Hingangs“ ein Privilegium einzelner von der Gott-
heit besonders Begnadeter, aus dem man durchaus keinen Glau-
benssatz von allgemeiner Gültigkeit ableiten darf. Am ersten
liesse die, Einzelnen gewährte wunderbare Erhaltung des Lebens
im Lande seliger Ruhe sich vergleichen mit der ebenso wunder-
baren Erhaltung des Bewusstseins jener drei Götterfeinde im
Hades, von denen die Nekyia erzählt. Die Büsser im Erebos,
die Seligen im Elysium entsprechen einander; beide stellen
Ausnahmen dar, welche die Regel nicht aufheben, den homeri-
schen Glauben im Ganzen nicht beeinträchtigen. Die Allmacht
der Götter hat dort wie hier das Gesetz durchbrochen. Die
aber, welche besondere Göttergunst dem Tode enthebt und
in’s Elysium entrückt, sind nahe Verwandte der Götter; hierin
allein scheint die Gnade ihren Grund zu haben 3). Wenn irgend
1) — μαλϑακὸς αἰχμητής Il. 17, 588.
2) Il. 14, 321. 322.
3) Man könnte sogar den Verdacht hegen, dass Menelaos zu ewigem
Leben entrückt werde, nicht nur weil er Helena, des Zeus Tochter zur
Gattin hat: οὕνεκ̕ ἔχεις Ἑλένην, wie ihm Proteus sagt, sondern auch erst
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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/90>, abgerufen am 24.11.2024.
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