Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

Bild:
<< vorherige Seite

Erinnerung lebenden Kämpfen der vergangenen Zeit, wie in
Nestors Hause, im Pallast des Menelaos und der wieder-
gewonnenen Helena. Oder Schilderung einer freiwillig milden
Natur, wie auf der Insel Syrie, der Jugendheimath des Eu-
mäos, auf der in reichem Besitze an Heerden, Wein und Korn ein
Volk lebt, frei von Noth und Krankheit bis zum hohen Alter,
wo dann Apollo und Artemis mit sanften Geschossen plötz-
lichen Tod bringen (Od. 15, 403 ff.). Fragst Du freilich, wo
diese glückliche Insel liege, so antwortet Dir der Dichter: sie
liegt über Ortygie, dort wo die Sonne sich wendet. Aber wo
ist Ortygie 1) und wer kann die Stelle zeigen wo, fern im
Westen, die Sonne sich zur Rückfahrt wendet? Das Land
idyllischen Genügens liegt fast schon ausserhalb der Welt.
Phönicische Händler wohl, die überall hinkommen, gelangen
auch dorthin (V. 415 ff.), und ionische Schiffer mochten wohl,
in dieser Zeit frühester griechischer Colonieführungen, in welche
die Odyssee noch hineinreicht, fern draussen im Meere solche
gedeihliche Wohnstätten neuen Lebens finden zu können hoffen.

So gleicht auch Land und Leben der Phäaken dem
Idealbilde einer ionischen Neugründung, fern von der Unruhe,
dem aufregenden Wettbewerb, frei von aller Beschränkung der
bekannten Griechenländer. Aber dieses Traumbild, schatten-
los, in eitel Licht getaucht, ist in unerreichbare Weite hinaus-
gerückt; nur durch Zufall wird einmal ein fremdes Schiff dort-

1) Ortugie Od. 15, 404 mit Delos, und Surie mit der Insel Syros
zu identificiren (mit den alten Erklärern, und K. O. Müller, Dorier 1, 381)
ist unmöglich, schon wegen des Zusatzes: othi tropai eelioio, der die Insel
Syrie weit fort in den fabelhaften Westen verweist, wohin allein auch
solches Wunderland passen will. Ortygie ist offenbar ursprünglich ein
rein mythisches Land, der Artemis heilig, nicht deutlicher fixirt als das
dionysische Nysa und eben darum überall wiedergefunden, wo der Ar-
temiscult besonders blühte, in Aetolien, bei Syrakus, bei Ephesus, auf
Delos. Delos wird von Ortygie bestimmt unterschieden, h. Apoll. 16;
mit Ortygie identificirt erst nachträglich (Delos galt als der ältere
Name: O. Schneider, Nicandr., p. 22 Anm.), seit Artemis mit Apollo in
engste Gemeinschaft gesetzt wurde, aber auch dann nicht allgemein: wie
denn bei Homer Ortygie nirgends deutlich = Delos steht.

Erinnerung lebenden Kämpfen der vergangenen Zeit, wie in
Nestors Hause, im Pallast des Menelaos und der wieder-
gewonnenen Helena. Oder Schilderung einer freiwillig milden
Natur, wie auf der Insel Syrie, der Jugendheimath des Eu-
mäos, auf der in reichem Besitze an Heerden, Wein und Korn ein
Volk lebt, frei von Noth und Krankheit bis zum hohen Alter,
wo dann Apollo und Artemis mit sanften Geschossen plötz-
lichen Tod bringen (Od. 15, 403 ff.). Fragst Du freilich, wo
diese glückliche Insel liege, so antwortet Dir der Dichter: sie
liegt über Ortygie, dort wo die Sonne sich wendet. Aber wo
ist Ortygie 1) und wer kann die Stelle zeigen wo, fern im
Westen, die Sonne sich zur Rückfahrt wendet? Das Land
idyllischen Genügens liegt fast schon ausserhalb der Welt.
Phönicische Händler wohl, die überall hinkommen, gelangen
auch dorthin (V. 415 ff.), und ionische Schiffer mochten wohl,
in dieser Zeit frühester griechischer Colonieführungen, in welche
die Odyssee noch hineinreicht, fern draussen im Meere solche
gedeihliche Wohnstätten neuen Lebens finden zu können hoffen.

So gleicht auch Land und Leben der Phäaken dem
Idealbilde einer ionischen Neugründung, fern von der Unruhe,
dem aufregenden Wettbewerb, frei von aller Beschränkung der
bekannten Griechenländer. Aber dieses Traumbild, schatten-
los, in eitel Licht getaucht, ist in unerreichbare Weite hinaus-
gerückt; nur durch Zufall wird einmal ein fremdes Schiff dort-

1) Ὀρτυγίη Od. 15, 404 mit Delos, und Συρίη mit der Insel Syros
zu identificiren (mit den alten Erklärern, und K. O. Müller, Dorier 1, 381)
ist unmöglich, schon wegen des Zusatzes: ὅϑι τροπαὶ ὴελίοιο, der die Insel
Syrie weit fort in den fabelhaften Westen verweist, wohin allein auch
solches Wunderland passen will. Ortygie ist offenbar ursprünglich ein
rein mythisches Land, der Artemis heilig, nicht deutlicher fixirt als das
dionysische Nysa und eben darum überall wiedergefunden, wo der Ar-
temiscult besonders blühte, in Aetolien, bei Syrakus, bei Ephesus, auf
Delos. Delos wird von Ortygie bestimmt unterschieden, h. Apoll. 16;
mit Ortygie identificirt erst nachträglich (Delos galt als der ältere
Name: O. Schneider, Nicandr., p. 22 Anm.), seit Artemis mit Apollo in
engste Gemeinschaft gesetzt wurde, aber auch dann nicht allgemein: wie
denn bei Homer Ortygie nirgends deutlich = Delos steht.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0093" n="77"/>
Erinnerung lebenden Kämpfen der vergangenen Zeit, wie in<lb/>
Nestors Hause, im Pallast des Menelaos und der wieder-<lb/>
gewonnenen Helena. Oder Schilderung einer freiwillig milden<lb/>
Natur, wie auf der Insel <hi rendition="#g">Syrie</hi>, der Jugendheimath des Eu-<lb/>
mäos, auf der in reichem Besitze an Heerden, Wein und Korn ein<lb/>
Volk lebt, frei von Noth und Krankheit bis zum hohen Alter,<lb/>
wo dann Apollo und Artemis mit sanften Geschossen plötz-<lb/>
lichen Tod bringen (Od. 15, 403 ff.). Fragst Du freilich, wo<lb/>
diese glückliche Insel liege, so antwortet Dir der Dichter: sie<lb/>
liegt über Ortygie, dort wo die Sonne sich wendet. Aber wo<lb/>
ist Ortygie <note place="foot" n="1)">&#x1F48;&#x03C1;&#x03C4;&#x03C5;&#x03B3;&#x03AF;&#x03B7; Od. 15, 404 mit Delos, und &#x03A3;&#x03C5;&#x03C1;&#x03AF;&#x03B7; mit der Insel Syros<lb/>
zu identificiren (mit den alten Erklärern, und K. O. Müller, <hi rendition="#i">Dorier</hi> 1, 381)<lb/>
ist unmöglich, schon wegen des Zusatzes: &#x1F45;&#x03D1;&#x03B9; &#x03C4;&#x03C1;&#x03BF;&#x03C0;&#x03B1;&#x1F76; &#x1F74;&#x03B5;&#x03BB;&#x03AF;&#x03BF;&#x03B9;&#x03BF;, der die Insel<lb/>
Syrie weit fort in den fabelhaften Westen verweist, wohin allein auch<lb/>
solches Wunderland passen will. Ortygie ist offenbar ursprünglich ein<lb/>
rein mythisches Land, der Artemis heilig, nicht deutlicher fixirt als das<lb/>
dionysische Nysa und eben darum überall wiedergefunden, wo der Ar-<lb/>
temiscult besonders blühte, in Aetolien, bei Syrakus, bei Ephesus, auf<lb/>
Delos. Delos wird von Ortygie bestimmt unterschieden, h. Apoll. 16;<lb/>
mit Ortygie identificirt erst nachträglich (Delos galt als der <hi rendition="#g">ältere</hi><lb/>
Name: O. Schneider, <hi rendition="#i">Nicandr</hi>., p. 22 Anm.), seit Artemis mit Apollo in<lb/>
engste Gemeinschaft gesetzt wurde, aber auch dann nicht allgemein: wie<lb/>
denn bei Homer Ortygie <hi rendition="#g">nirgends</hi> deutlich = Delos steht.</note> und wer kann die Stelle zeigen wo, fern im<lb/>
Westen, die Sonne sich zur Rückfahrt wendet? Das Land<lb/>
idyllischen Genügens liegt fast schon ausserhalb der Welt.<lb/>
Phönicische Händler wohl, die überall hinkommen, gelangen<lb/>
auch dorthin (V. 415 ff.), und ionische Schiffer mochten wohl,<lb/>
in dieser Zeit frühester griechischer Colonieführungen, in welche<lb/>
die Odyssee noch hineinreicht, fern draussen im Meere solche<lb/>
gedeihliche Wohnstätten neuen Lebens finden zu können hoffen.</p><lb/>
            <p>So gleicht auch Land und Leben der <hi rendition="#g">Phäaken</hi> dem<lb/>
Idealbilde einer ionischen Neugründung, fern von der Unruhe,<lb/>
dem aufregenden Wettbewerb, frei von aller Beschränkung der<lb/>
bekannten Griechenländer. Aber dieses Traumbild, schatten-<lb/>
los, in eitel Licht getaucht, ist in unerreichbare Weite hinaus-<lb/>
gerückt; nur durch Zufall wird einmal ein fremdes Schiff dort-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[77/0093] Erinnerung lebenden Kämpfen der vergangenen Zeit, wie in Nestors Hause, im Pallast des Menelaos und der wieder- gewonnenen Helena. Oder Schilderung einer freiwillig milden Natur, wie auf der Insel Syrie, der Jugendheimath des Eu- mäos, auf der in reichem Besitze an Heerden, Wein und Korn ein Volk lebt, frei von Noth und Krankheit bis zum hohen Alter, wo dann Apollo und Artemis mit sanften Geschossen plötz- lichen Tod bringen (Od. 15, 403 ff.). Fragst Du freilich, wo diese glückliche Insel liege, so antwortet Dir der Dichter: sie liegt über Ortygie, dort wo die Sonne sich wendet. Aber wo ist Ortygie 1) und wer kann die Stelle zeigen wo, fern im Westen, die Sonne sich zur Rückfahrt wendet? Das Land idyllischen Genügens liegt fast schon ausserhalb der Welt. Phönicische Händler wohl, die überall hinkommen, gelangen auch dorthin (V. 415 ff.), und ionische Schiffer mochten wohl, in dieser Zeit frühester griechischer Colonieführungen, in welche die Odyssee noch hineinreicht, fern draussen im Meere solche gedeihliche Wohnstätten neuen Lebens finden zu können hoffen. So gleicht auch Land und Leben der Phäaken dem Idealbilde einer ionischen Neugründung, fern von der Unruhe, dem aufregenden Wettbewerb, frei von aller Beschränkung der bekannten Griechenländer. Aber dieses Traumbild, schatten- los, in eitel Licht getaucht, ist in unerreichbare Weite hinaus- gerückt; nur durch Zufall wird einmal ein fremdes Schiff dort- 1) Ὀρτυγίη Od. 15, 404 mit Delos, und Συρίη mit der Insel Syros zu identificiren (mit den alten Erklärern, und K. O. Müller, Dorier 1, 381) ist unmöglich, schon wegen des Zusatzes: ὅϑι τροπαὶ ὴελίοιο, der die Insel Syrie weit fort in den fabelhaften Westen verweist, wohin allein auch solches Wunderland passen will. Ortygie ist offenbar ursprünglich ein rein mythisches Land, der Artemis heilig, nicht deutlicher fixirt als das dionysische Nysa und eben darum überall wiedergefunden, wo der Ar- temiscult besonders blühte, in Aetolien, bei Syrakus, bei Ephesus, auf Delos. Delos wird von Ortygie bestimmt unterschieden, h. Apoll. 16; mit Ortygie identificirt erst nachträglich (Delos galt als der ältere Name: O. Schneider, Nicandr., p. 22 Anm.), seit Artemis mit Apollo in engste Gemeinschaft gesetzt wurde, aber auch dann nicht allgemein: wie denn bei Homer Ortygie nirgends deutlich = Delos steht.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/93
Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/93>, abgerufen am 24.11.2024.