§. 26. Dafern eine gewisse Art und Weise einer äusserlichen Handleitung, die nach dem Urtheil der Welt zum Wohlstande gehört, nur einiger massen von dem Wege der Wahrheit und Tugend abge- het, so kan man dieselbe wohl endlich beybehalten, wenn man siehet, daß durch diese oder jene Unvoll- kommenheit eine grössere Vollkommenheit zu erlan- gen sey, da die Welt ohnedem nicht gewohnt, bey ihren Handlungen nach der grösten accuratesse zu verfahren; jedoch muß man ebenfalls anzeigen, was dabey unvollkommen sey, und verbessert wer- den könte und solte. Jn beyden Theilen schreibt die Lehre der Klugheit einem Autori Regeln vor, wie weit ihm nach seinen Umständen, darinnen er sich befindet, vergönnet sey, die Wahrheit anzuzei- gen, und andere gleichfam zu hofmeistern, ohne sei- ner Glückseligkeit zu schaden.
§. 27. Bey dem Vortrag der Lehre des Staats und Hof-Ceremoniels muß man anders verfah- ren. Diejenigen, die andern Gesetze vorschreiben, können nicht wohl vertragen, wenn ihnen andere Lebens-Regeln vorschreiben, noch weniger aber lei- den, wenn man über ihre Handlungen crilisirt. Sie wollen gelobet, bewundert und nachgeahmet, aber nicht erinnert werden; sie verstehen entweder am besten, was zur Politesse, zur Galanterie und überhaupt zum Wohlstande gehört, oder wollen doch davor angesehen seyn, als ob sie vor allen an- dern am fähigsten wären, die Vollkommenheit der Handlungen am besten zu beurtheilen, und auch
aus-
B 4
Von der Ceremoniel-Wiſſenſch. uͤberh.
§. 26. Dafern eine gewiſſe Art und Weiſe einer aͤuſſerlichen Handleitung, die nach dem Urtheil der Welt zum Wohlſtande gehoͤrt, nur einiger maſſen von dem Wege der Wahrheit und Tugend abge- het, ſo kan man dieſelbe wohl endlich beybehalten, wenn man ſiehet, daß durch dieſe oder jene Unvoll- kommenheit eine groͤſſere Vollkommenheit zu erlan- gen ſey, da die Welt ohnedem nicht gewohnt, bey ihren Handlungen nach der groͤſten accurateſſe zu verfahren; jedoch muß man ebenfalls anzeigen, was dabey unvollkommen ſey, und verbeſſert wer- den koͤnte und ſolte. Jn beyden Theilen ſchreibt die Lehre der Klugheit einem Autori Regeln vor, wie weit ihm nach ſeinen Umſtaͤnden, darinnen er ſich befindet, vergoͤnnet ſey, die Wahrheit anzuzei- gen, und andere gleichfam zu hofmeiſtern, ohne ſei- ner Gluͤckſeligkeit zu ſchaden.
§. 27. Bey dem Vortrag der Lehre des Staats und Hof-Ceremoniels muß man anders verfah- ren. Diejenigen, die andern Geſetze vorſchreiben, koͤnnen nicht wohl vertragen, wenn ihnen andere Lebens-Regeln vorſchreiben, noch weniger aber lei- den, wenn man uͤber ihre Handlungen criliſirt. Sie wollen gelobet, bewundert und nachgeahmet, aber nicht erinnert werden; ſie verſtehen entweder am beſten, was zur Politeſſe, zur Galanterie und uͤberhaupt zum Wohlſtande gehoͤrt, oder wollen doch davor angeſehen ſeyn, als ob ſie vor allen an- dern am faͤhigſten waͤren, die Vollkommenheit der Handlungen am beſten zu beurtheilen, und auch
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Von der Ceremoniel-Wiſſenſch. uͤberh.
§. 26. Dafern eine gewiſſe Art und Weiſe einer
aͤuſſerlichen Handleitung, die nach dem Urtheil der
Welt zum Wohlſtande gehoͤrt, nur einiger maſſen
von dem Wege der Wahrheit und Tugend abge-
het, ſo kan man dieſelbe wohl endlich beybehalten,
wenn man ſiehet, daß durch dieſe oder jene Unvoll-
kommenheit eine groͤſſere Vollkommenheit zu erlan-
gen ſey, da die Welt ohnedem nicht gewohnt, bey
ihren Handlungen nach der groͤſten accurateſſe zu
verfahren; jedoch muß man ebenfalls anzeigen,
was dabey unvollkommen ſey, und verbeſſert wer-
den koͤnte und ſolte. Jn beyden Theilen ſchreibt
die Lehre der Klugheit einem Autori Regeln vor,
wie weit ihm nach ſeinen Umſtaͤnden, darinnen er
ſich befindet, vergoͤnnet ſey, die Wahrheit anzuzei-
gen, und andere gleichfam zu hofmeiſtern, ohne ſei-
ner Gluͤckſeligkeit zu ſchaden.
§. 27. Bey dem Vortrag der Lehre des Staats
und Hof-Ceremoniels muß man anders verfah-
ren. Diejenigen, die andern Geſetze vorſchreiben,
koͤnnen nicht wohl vertragen, wenn ihnen andere
Lebens-Regeln vorſchreiben, noch weniger aber lei-
den, wenn man uͤber ihre Handlungen criliſirt.
Sie wollen gelobet, bewundert und nachgeahmet,
aber nicht erinnert werden; ſie verſtehen entweder
am beſten, was zur Politeſſe, zur Galanterie und
uͤberhaupt zum Wohlſtande gehoͤrt, oder wollen
doch davor angeſehen ſeyn, als ob ſie vor allen an-
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Rohr, Julius Bernhard von: Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschafft der Privat-Personen. Berlin, 1728, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohr_einleitung_1728/43>, abgerufen am 09.11.2024.
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