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Rohr, Julius Bernhard von: Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschafft der Privat-Personen. Berlin, 1728.

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II. Theil. XVI. Capitul.
sie in ihrem Leben nicht gesehen; wie kan man ein
gutes Vertrauen zu denenjenigen haben, dessen
Glaube und Lebens-Wandel einem im geringsten
nicht bekandt. Jch rede hier nicht von demjenigen
Fall, da es bißweilen möglich ist, daß man einen
gantz Fremden, wegen seines von ihm allenthalben
erschollenen guten Gerüchtes, kennen und hochach-
ten kan, sondern da die Leute, bey der Wahl der
Fremden, bloß eigennützige Absichten zum Grund
legen. Eben so ungereimt ist es auch, wenn einige
diejenigen die 20, 30, 40 und mehr Meilen abwe-
send, zu Gevattern erkiesen, und von denen ungewiß,
ob sie wohl die Unkosten über sich nehmen, und der
Gevatterschafft wegen einen so weiten Weg reisen
wolten; öffters wissen sie es auch vorher gantz ge-
wiß, daß sie nicht kommen werden. Alle die höf-
lichsten Einladungen geschehen nur zum Schein,
und sind nichts anders, als zierlich stylisirte Un-
wahrheiten. Mancher würde von Hertzen erschre-
cken, wenn der invitirte hohe und vornehme Tauff-
Zeuge in Person sich einstellen solte. Der vorhin
allegirte Ernst Ludwig von Faramond macht in sei-
ner Klugheit der wahren, und Narrheit der falschen
Christen, pag. 74, hierbey eine gute Anmerckung,
wenn er sagt: Die Gevattern sollen Zeugen seyn;
Kan aber auch derjenige wohl ein Zeuge seyn, wel-
chem man, nebst viel andern, den Gevatter-Brief
auf 40, 50, ja wohl auf 100 Meilen fortschicket, wel-
cher also nicht gesehen hat, daß das Kind getaufft
werde, ja der sich hernach niemahls darum befragt,

ob

II. Theil. XVI. Capitul.
ſie in ihrem Leben nicht geſehen; wie kan man ein
gutes Vertrauen zu denenjenigen haben, deſſen
Glaube und Lebens-Wandel einem im geringſten
nicht bekandt. Jch rede hier nicht von demjenigen
Fall, da es bißweilen moͤglich iſt, daß man einen
gantz Fremden, wegen ſeines von ihm allenthalben
erſchollenen guten Geruͤchtes, kennen und hochach-
ten kan, ſondern da die Leute, bey der Wahl der
Fremden, bloß eigennuͤtzige Abſichten zum Grund
legen. Eben ſo ungereimt iſt es auch, wenn einige
diejenigen die 20, 30, 40 und mehr Meilen abwe-
ſend, zu Gevattern erkieſen, und von denen ungewiß,
ob ſie wohl die Unkoſten uͤber ſich nehmen, und der
Gevatterſchafft wegen einen ſo weiten Weg reiſen
wolten; oͤffters wiſſen ſie es auch vorher gantz ge-
wiß, daß ſie nicht kommen werden. Alle die hoͤf-
lichſten Einladungen geſchehen nur zum Schein,
und ſind nichts anders, als zierlich ſtyliſirte Un-
wahrheiten. Mancher wuͤrde von Hertzen erſchre-
cken, wenn der invitirte hohe und vornehme Tauff-
Zeuge in Perſon ſich einſtellen ſolte. Der vorhin
allegirte Ernſt Ludwig von Faramond macht in ſei-
ner Klugheit der wahren, und Narrheit der falſchen
Chriſten, pag. 74, hierbey eine gute Anmerckung,
wenn er ſagt: Die Gevattern ſollen Zeugen ſeyn;
Kan aber auch derjenige wohl ein Zeuge ſeyn, wel-
chem man, nebſt viel andern, den Gevatter-Brief
auf 40, 50, ja wohl auf 100 Meilen fortſchicket, wel-
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werde, ja der ſich hernach niemahls darum befragt,

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[628/0648] II. Theil. XVI. Capitul. ſie in ihrem Leben nicht geſehen; wie kan man ein gutes Vertrauen zu denenjenigen haben, deſſen Glaube und Lebens-Wandel einem im geringſten nicht bekandt. Jch rede hier nicht von demjenigen Fall, da es bißweilen moͤglich iſt, daß man einen gantz Fremden, wegen ſeines von ihm allenthalben erſchollenen guten Geruͤchtes, kennen und hochach- ten kan, ſondern da die Leute, bey der Wahl der Fremden, bloß eigennuͤtzige Abſichten zum Grund legen. Eben ſo ungereimt iſt es auch, wenn einige diejenigen die 20, 30, 40 und mehr Meilen abwe- ſend, zu Gevattern erkieſen, und von denen ungewiß, ob ſie wohl die Unkoſten uͤber ſich nehmen, und der Gevatterſchafft wegen einen ſo weiten Weg reiſen wolten; oͤffters wiſſen ſie es auch vorher gantz ge- wiß, daß ſie nicht kommen werden. Alle die hoͤf- lichſten Einladungen geſchehen nur zum Schein, und ſind nichts anders, als zierlich ſtyliſirte Un- wahrheiten. Mancher wuͤrde von Hertzen erſchre- cken, wenn der invitirte hohe und vornehme Tauff- Zeuge in Perſon ſich einſtellen ſolte. Der vorhin allegirte Ernſt Ludwig von Faramond macht in ſei- ner Klugheit der wahren, und Narrheit der falſchen Chriſten, pag. 74, hierbey eine gute Anmerckung, wenn er ſagt: Die Gevattern ſollen Zeugen ſeyn; Kan aber auch derjenige wohl ein Zeuge ſeyn, wel- chem man, nebſt viel andern, den Gevatter-Brief auf 40, 50, ja wohl auf 100 Meilen fortſchicket, wel- cher alſo nicht geſehen hat, daß das Kind getaufft werde, ja der ſich hernach niemahls darum befragt, ob

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Zitationshilfe: Rohr, Julius Bernhard von: Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschafft der Privat-Personen. Berlin, 1728, S. 628. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohr_einleitung_1728/648>, abgerufen am 21.11.2024.