Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rosegger, Peter: Die Schriften des Waldschulmeisters. Pest, 1875.

Bild:
<< vorherige Seite

der weit und breit berühmte und berüchtigte graue
Zahn -- das Ziel meiner Gebirgsreise.

Als ich so dasaß, hauchte jenes Gefühl durch meine
Seele, von dem kein Mensch zu sagen weiß, wie es ent-
steht, was es bedeutet und warum es sosehr das Herz
beklemmt; gleichsam mit einem Panzer umgürtet, auf
daß es gerüstet sei gegen ein Etwas, das kommen
muß. Ahnung nennen wir den wundersamen Hauch.

Ich hätte vielleicht länger noch geruht auf dem
Steine und dem Tosen des Wildwassers und dem
Säuseln der Waldwipfel gelauscht; allein, mir schien,
als strecke sich der Holzarm immer länger und länger
aus, und zum Mahnrufe wurden mir die Worte:
"Weg nach Winkelsteg."

Und wahrhaftig, als ich mich erhob, da sah
ich, daß mein Schatten schon ein gut Stück länger
war, als ich selbst. Und wer weiß, wie weit ab es
noch lag, das letzte und kleinste Dorf Winkelsteg.

Ich ging rasch und sah mich nicht viel um.
Ich merkte nur, daß die Wildniß immer größer
wurde. Rehe hörte ich röhren im Walde, Geier
hörte ich pfeifen in der Luft. Es begann zu dunkeln,
und es war noch nicht Zeit zum Nachten. Ueber
dem Felsgebirge lag ein Gewitter. Ein dumpfes
halbersticktes Murren war zu hören und nicht lange,
so erhob sich ein Grollen und Rollen, als ob all
die Felsen und Eiswuchten des Hochgebirges tausend

1*

der weit und breit berühmte und berüchtigte graue
Zahn — das Ziel meiner Gebirgsreiſe.

Als ich ſo daſaß, hauchte jenes Gefühl durch meine
Seele, von dem kein Menſch zu ſagen weiß, wie es ent-
ſteht, was es bedeutet und warum es ſoſehr das Herz
beklemmt; gleichſam mit einem Panzer umgürtet, auf
daß es gerüſtet ſei gegen ein Etwas, das kommen
muß. Ahnung nennen wir den wunderſamen Hauch.

Ich hätte vielleicht länger noch geruht auf dem
Steine und dem Toſen des Wildwaſſers und dem
Säuſeln der Waldwipfel gelauſcht; allein, mir ſchien,
als ſtrecke ſich der Holzarm immer länger und länger
aus, und zum Mahnrufe wurden mir die Worte:
„Weg nach Winkelſteg.“

Und wahrhaftig, als ich mich erhob, da ſah
ich, daß mein Schatten ſchon ein gut Stück länger
war, als ich ſelbſt. Und wer weiß, wie weit ab es
noch lag, das letzte und kleinſte Dorf Winkelſteg.

Ich ging raſch und ſah mich nicht viel um.
Ich merkte nur, daß die Wildniß immer größer
wurde. Rehe hörte ich röhren im Walde, Geier
hörte ich pfeifen in der Luft. Es begann zu dunkeln,
und es war noch nicht Zeit zum Nachten. Ueber
dem Felsgebirge lag ein Gewitter. Ein dumpfes
halberſticktes Murren war zu hören und nicht lange,
ſo erhob ſich ein Grollen und Rollen, als ob all
die Felſen und Eiswuchten des Hochgebirges tauſend

1*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0013" n="3"/>
der weit und breit berühmte und berüchtigte graue<lb/>
Zahn &#x2014; das Ziel meiner Gebirgsrei&#x017F;e.</p><lb/>
        <p>Als ich &#x017F;o da&#x017F;aß, hauchte jenes Gefühl durch meine<lb/>
Seele, von dem kein Men&#x017F;ch zu &#x017F;agen weiß, wie es ent-<lb/>
&#x017F;teht, was es bedeutet und warum es &#x017F;o&#x017F;ehr das Herz<lb/>
beklemmt; gleich&#x017F;am mit einem Panzer umgürtet, auf<lb/>
daß es gerü&#x017F;tet &#x017F;ei gegen ein Etwas, das kommen<lb/>
muß. Ahnung nennen wir den wunder&#x017F;amen Hauch.</p><lb/>
        <p>Ich hätte vielleicht länger noch geruht auf dem<lb/>
Steine und dem To&#x017F;en des Wildwa&#x017F;&#x017F;ers und dem<lb/>
Säu&#x017F;eln der Waldwipfel gelau&#x017F;cht; allein, mir &#x017F;chien,<lb/>
als &#x017F;trecke &#x017F;ich der Holzarm immer länger und länger<lb/>
aus, und zum Mahnrufe wurden mir die Worte:<lb/>
&#x201E;Weg nach Winkel&#x017F;teg.&#x201C;</p><lb/>
        <p>Und wahrhaftig, als ich mich erhob, da &#x017F;ah<lb/>
ich, daß mein Schatten &#x017F;chon ein gut Stück länger<lb/>
war, als ich &#x017F;elb&#x017F;t. Und wer weiß, wie weit ab es<lb/>
noch lag, das letzte und klein&#x017F;te Dorf Winkel&#x017F;teg.</p><lb/>
        <p>Ich ging ra&#x017F;ch und &#x017F;ah mich nicht viel um.<lb/>
Ich merkte nur, daß die Wildniß immer größer<lb/>
wurde. Rehe hörte ich röhren im Walde, Geier<lb/>
hörte ich pfeifen in der Luft. Es begann zu dunkeln,<lb/>
und es war noch nicht Zeit zum Nachten. Ueber<lb/>
dem Felsgebirge lag ein Gewitter. Ein dumpfes<lb/>
halber&#x017F;ticktes Murren war zu hören und nicht lange,<lb/>
&#x017F;o erhob &#x017F;ich ein Grollen und Rollen, als ob all<lb/>
die Fel&#x017F;en und Eiswuchten des Hochgebirges tau&#x017F;end<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">1*</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[3/0013] der weit und breit berühmte und berüchtigte graue Zahn — das Ziel meiner Gebirgsreiſe. Als ich ſo daſaß, hauchte jenes Gefühl durch meine Seele, von dem kein Menſch zu ſagen weiß, wie es ent- ſteht, was es bedeutet und warum es ſoſehr das Herz beklemmt; gleichſam mit einem Panzer umgürtet, auf daß es gerüſtet ſei gegen ein Etwas, das kommen muß. Ahnung nennen wir den wunderſamen Hauch. Ich hätte vielleicht länger noch geruht auf dem Steine und dem Toſen des Wildwaſſers und dem Säuſeln der Waldwipfel gelauſcht; allein, mir ſchien, als ſtrecke ſich der Holzarm immer länger und länger aus, und zum Mahnrufe wurden mir die Worte: „Weg nach Winkelſteg.“ Und wahrhaftig, als ich mich erhob, da ſah ich, daß mein Schatten ſchon ein gut Stück länger war, als ich ſelbſt. Und wer weiß, wie weit ab es noch lag, das letzte und kleinſte Dorf Winkelſteg. Ich ging raſch und ſah mich nicht viel um. Ich merkte nur, daß die Wildniß immer größer wurde. Rehe hörte ich röhren im Walde, Geier hörte ich pfeifen in der Luft. Es begann zu dunkeln, und es war noch nicht Zeit zum Nachten. Ueber dem Felsgebirge lag ein Gewitter. Ein dumpfes halberſticktes Murren war zu hören und nicht lange, ſo erhob ſich ein Grollen und Rollen, als ob all die Felſen und Eiswuchten des Hochgebirges tauſend 1*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/rosegger_waldschulmeister_1875
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/rosegger_waldschulmeister_1875/13
Zitationshilfe: Rosegger, Peter: Die Schriften des Waldschulmeisters. Pest, 1875, S. 3. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosegger_waldschulmeister_1875/13>, abgerufen am 03.12.2024.