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Rosegger, Peter: Die Schriften des Waldschulmeisters. Pest, 1875.

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aber habe man dem weißen Raben keine Körner
gestreut, weil ein Mißjahr gewesen, und weil ein
Mann die Sache für etwas Albernes ausgelegt
habe. Darauf sei der Rabe nicht mehr gekommen.
-- Aber kaum der Winter vorüber, so seien von
Sonnenaufgang her wilde Völkerschaaren heran-
geströmt mit häßlichen braunen Gesichtern, blut-
rothen Hauben und Roßschweifen, auf wunderlichen
Thieren reitend, seltsame Waffen schleppend -- und
gar in die Winkelwälder hereingezogen. Diese Rotten
haben geplündert und die Bewohner zu Hunderten
davongeschleppt, so daß die Gegend menschenleer
geworden.

Dann sind die Häuser und der Tempel verfallen,
das Wasser hat die Dämme und Wege zerstört und
die Wiesen mit Schutt oder Gestein übergossen.
Die Obstbäume sind verwildert; auf den Feldern
sind Lärchenwälder gewachsen, die Lärchen aber durch
Tannen und Fichten verdrängt worden. Und so sind
die finsteren, hundertjährigen Hochwälder entstanden.

Es ist nicht zu bestimmen, ob der Kern der
heutigen Waldleute von jenem vor Jahrhunderten
abstammt. Ich glaube vielmehr: so wie die alten
Bewohner durch eine an die Alpen brandende Welle
wilder Zeiten fortgeschwemmt worden sind, so sind
nach vielen Jahren in den Stürmen der Zeit
Splitter anderer Stämme in diese Wälder verschla-

aber habe man dem weißen Raben keine Körner
geſtreut, weil ein Mißjahr geweſen, und weil ein
Mann die Sache für etwas Albernes ausgelegt
habe. Darauf ſei der Rabe nicht mehr gekommen.
— Aber kaum der Winter vorüber, ſo ſeien von
Sonnenaufgang her wilde Völkerſchaaren heran-
geſtrömt mit häßlichen braunen Geſichtern, blut-
rothen Hauben und Roßſchweifen, auf wunderlichen
Thieren reitend, ſeltſame Waffen ſchleppend — und
gar in die Winkelwälder hereingezogen. Dieſe Rotten
haben geplündert und die Bewohner zu Hunderten
davongeſchleppt, ſo daß die Gegend menſchenleer
geworden.

Dann ſind die Häuſer und der Tempel verfallen,
das Waſſer hat die Dämme und Wege zerſtört und
die Wieſen mit Schutt oder Geſtein übergoſſen.
Die Obſtbäume ſind verwildert; auf den Feldern
ſind Lärchenwälder gewachſen, die Lärchen aber durch
Tannen und Fichten verdrängt worden. Und ſo ſind
die finſteren, hundertjährigen Hochwälder entſtanden.

Es iſt nicht zu beſtimmen, ob der Kern der
heutigen Waldleute von jenem vor Jahrhunderten
abſtammt. Ich glaube vielmehr: ſo wie die alten
Bewohner durch eine an die Alpen brandende Welle
wilder Zeiten fortgeſchwemmt worden ſind, ſo ſind
nach vielen Jahren in den Stürmen der Zeit
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[178/0188] aber habe man dem weißen Raben keine Körner geſtreut, weil ein Mißjahr geweſen, und weil ein Mann die Sache für etwas Albernes ausgelegt habe. Darauf ſei der Rabe nicht mehr gekommen. — Aber kaum der Winter vorüber, ſo ſeien von Sonnenaufgang her wilde Völkerſchaaren heran- geſtrömt mit häßlichen braunen Geſichtern, blut- rothen Hauben und Roßſchweifen, auf wunderlichen Thieren reitend, ſeltſame Waffen ſchleppend — und gar in die Winkelwälder hereingezogen. Dieſe Rotten haben geplündert und die Bewohner zu Hunderten davongeſchleppt, ſo daß die Gegend menſchenleer geworden. Dann ſind die Häuſer und der Tempel verfallen, das Waſſer hat die Dämme und Wege zerſtört und die Wieſen mit Schutt oder Geſtein übergoſſen. Die Obſtbäume ſind verwildert; auf den Feldern ſind Lärchenwälder gewachſen, die Lärchen aber durch Tannen und Fichten verdrängt worden. Und ſo ſind die finſteren, hundertjährigen Hochwälder entſtanden. Es iſt nicht zu beſtimmen, ob der Kern der heutigen Waldleute von jenem vor Jahrhunderten abſtammt. Ich glaube vielmehr: ſo wie die alten Bewohner durch eine an die Alpen brandende Welle wilder Zeiten fortgeſchwemmt worden ſind, ſo ſind nach vielen Jahren in den Stürmen der Zeit Splitter anderer Stämme in dieſe Wälder verſchla-

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Zitationshilfe: Rosegger, Peter: Die Schriften des Waldschulmeisters. Pest, 1875, S. 178. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosegger_waldschulmeister_1875/188>, abgerufen am 24.11.2024.