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Rosegger, Peter: Die Schriften des Waldschulmeisters. Pest, 1875.

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Für's Erste ist sie in ihren Namen hinein-
gewachsen und hat etwas von einer Lilie an sich;
so schlank und weiß und mild, und doch verspürt
man auf ihren runden Wangen und auf ihren
frischen Lippen den Kuß der Sonne. Für's Zweite
ist ihr von den Rehen jener langen Winternacht
was geblieben, die anmutige Behendigkeit und das
Auge . . . .

Du, Andreas! Siehst du jeden deiner Schüler
so genau an?

Ja, sie gefällt aber Allen.

Sie gefällt den Armen, denen sie beizustehen
weiß. Manchen Traurigen hat sie schon getröstet
durch ihre milden, warmherzigen Worte; manchen
Verzagten hat sie erheitert durch ihren liebholden
Gesang. Und es ist zu herzig, alle Kinder von
Winkelsteg kennen die Waldlilie und hängen ihr
an. Thät' nur der Pfarrer noch leben, der hat an
so Leuten seine Freude gehabt.

Und ritterlich ist das Mädchen, trutz wilder
Thiere und böser Leute steigt sie im Gebirge umher,
um Früchte und Pflanzen zu sammeln. Es steht ja
geschrieben auf ihrer Stirne: "Machtlos ist vor
dir alles Böse!"

Letztlich bringt sie mir eine blaue Enziane
mit hochrothen Streifen, wie solche nur drüben im
Gesenke wachsen.


Für’s Erſte iſt ſie in ihren Namen hinein-
gewachſen und hat etwas von einer Lilie an ſich;
ſo ſchlank und weiß und mild, und doch verſpürt
man auf ihren runden Wangen und auf ihren
friſchen Lippen den Kuß der Sonne. Für’s Zweite
iſt ihr von den Rehen jener langen Winternacht
was geblieben, die anmutige Behendigkeit und das
Auge . . . .

Du, Andreas! Siehſt du jeden deiner Schüler
ſo genau an?

Ja, ſie gefällt aber Allen.

Sie gefällt den Armen, denen ſie beizuſtehen
weiß. Manchen Traurigen hat ſie ſchon getröſtet
durch ihre milden, warmherzigen Worte; manchen
Verzagten hat ſie erheitert durch ihren liebholden
Geſang. Und es iſt zu herzig, alle Kinder von
Winkelſteg kennen die Waldlilie und hängen ihr
an. Thät’ nur der Pfarrer noch leben, der hat an
ſo Leuten ſeine Freude gehabt.

Und ritterlich iſt das Mädchen, trutz wilder
Thiere und böſer Leute ſteigt ſie im Gebirge umher,
um Früchte und Pflanzen zu ſammeln. Es ſteht ja
geſchrieben auf ihrer Stirne: „Machtlos iſt vor
dir alles Böſe!“

Letztlich bringt ſie mir eine blaue Enziane
mit hochrothen Streifen, wie ſolche nur drüben im
Geſenke wachſen.


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[410/0420] Für’s Erſte iſt ſie in ihren Namen hinein- gewachſen und hat etwas von einer Lilie an ſich; ſo ſchlank und weiß und mild, und doch verſpürt man auf ihren runden Wangen und auf ihren friſchen Lippen den Kuß der Sonne. Für’s Zweite iſt ihr von den Rehen jener langen Winternacht was geblieben, die anmutige Behendigkeit und das Auge . . . . Du, Andreas! Siehſt du jeden deiner Schüler ſo genau an? Ja, ſie gefällt aber Allen. Sie gefällt den Armen, denen ſie beizuſtehen weiß. Manchen Traurigen hat ſie ſchon getröſtet durch ihre milden, warmherzigen Worte; manchen Verzagten hat ſie erheitert durch ihren liebholden Geſang. Und es iſt zu herzig, alle Kinder von Winkelſteg kennen die Waldlilie und hängen ihr an. Thät’ nur der Pfarrer noch leben, der hat an ſo Leuten ſeine Freude gehabt. Und ritterlich iſt das Mädchen, trutz wilder Thiere und böſer Leute ſteigt ſie im Gebirge umher, um Früchte und Pflanzen zu ſammeln. Es ſteht ja geſchrieben auf ihrer Stirne: „Machtlos iſt vor dir alles Böſe!“ Letztlich bringt ſie mir eine blaue Enziane mit hochrothen Streifen, wie ſolche nur drüben im Geſenke wachſen.

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Zitationshilfe: Rosegger, Peter: Die Schriften des Waldschulmeisters. Pest, 1875, S. 410. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosegger_waldschulmeister_1875/420>, abgerufen am 21.11.2024.