Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rosegger, Peter: Die Schriften des Waldschulmeisters. Pest, 1875.

Bild:
<< vorherige Seite

Brudermörder Kain zum erstenmale unter dem wilden
Astgeflechte der Lärche geruht hat, bis zur Stunde,
wo ein Anderer, auch ein Heimatloser, den Wohl-
duft der weichen, hellgrünen Nadeln friedlich trinkt.

Dunkel ist's, wie in einem gothischen Tempel;
nur der Nadelwald baut den Spitzbogenstyl. Oben-
hin ragen die hunderttausend Thürmchen der
Wipfel; dazwischen nieder auf den schattigen
Grund leuchtet, wie in kleinen Täfelchen zerschnit-
ten, die tiefe Himmelsbläue. Oder es segeln hoch
oben weiße Wölkelein hin, und suchen mich zu
erspähen, mich, das Würmchen im Waldfilz, und
wehen mir einen Gruß zu -- von . . . . Nein,
sie ist geborgen unter stolzem Dache von Menschen-
hand; ihr Wolken habt sie nicht gesehen, oder habt
ihr sie? -- Ach, sie wehen von fernen Oeden
und Meeren.

Da flüstert es, da säuselt es; es sprechen
miteinander die Bäume. Es träumt der Wald.

Eine schneeweiße, große Blüte weht heran;
blühen die Nadelwälder denn nicht in den Bluts-
tropfen ihrer purpurnen Zäpfchen? Woher die
weiße Blüte? Es ist ein Schmetterling, der sich
verirrt von seiner sonnigen Wiese und nun im
Dunkel des Waldes angstvoll gaukelt.

Wer bricht aber in den verwachsenen Kronen
die Aeste entzwei, daß sie krachen und prasseln und

Brudermörder Kain zum erſtenmale unter dem wilden
Aſtgeflechte der Lärche geruht hat, bis zur Stunde,
wo ein Anderer, auch ein Heimatloſer, den Wohl-
duft der weichen, hellgrünen Nadeln friedlich trinkt.

Dunkel iſt’s, wie in einem gothiſchen Tempel;
nur der Nadelwald baut den Spitzbogenſtyl. Oben-
hin ragen die hunderttauſend Thürmchen der
Wipfel; dazwiſchen nieder auf den ſchattigen
Grund leuchtet, wie in kleinen Täfelchen zerſchnit-
ten, die tiefe Himmelsbläue. Oder es ſegeln hoch
oben weiße Wölkelein hin, und ſuchen mich zu
erſpähen, mich, das Würmchen im Waldfilz, und
wehen mir einen Gruß zu — von . . . . Nein,
ſie iſt geborgen unter ſtolzem Dache von Menſchen-
hand; ihr Wolken habt ſie nicht geſehen, oder habt
ihr ſie? — Ach, ſie wehen von fernen Oeden
und Meeren.

Da flüſtert es, da ſäuſelt es; es ſprechen
miteinander die Bäume. Es träumt der Wald.

Eine ſchneeweiße, große Blüte weht heran;
blühen die Nadelwälder denn nicht in den Bluts-
tropfen ihrer purpurnen Zäpfchen? Woher die
weiße Blüte? Es iſt ein Schmetterling, der ſich
verirrt von ſeiner ſonnigen Wieſe und nun im
Dunkel des Waldes angſtvoll gaukelt.

Wer bricht aber in den verwachſenen Kronen
die Aeſte entzwei, daß ſie krachen und praſſeln und

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0088" n="78"/>
Brudermörder Kain zum er&#x017F;tenmale unter dem wilden<lb/>
A&#x017F;tgeflechte der Lärche geruht hat, bis zur Stunde,<lb/>
wo ein Anderer, auch ein Heimatlo&#x017F;er, den Wohl-<lb/>
duft der weichen, hellgrünen Nadeln friedlich trinkt.</p><lb/>
          <p>Dunkel i&#x017F;t&#x2019;s, wie in einem gothi&#x017F;chen Tempel;<lb/>
nur der Nadelwald baut den Spitzbogen&#x017F;tyl. Oben-<lb/>
hin ragen die hunderttau&#x017F;end Thürmchen der<lb/>
Wipfel; dazwi&#x017F;chen nieder auf den &#x017F;chattigen<lb/>
Grund leuchtet, wie in kleinen Täfelchen zer&#x017F;chnit-<lb/>
ten, die tiefe Himmelsbläue. Oder es &#x017F;egeln hoch<lb/>
oben weiße Wölkelein hin, und &#x017F;uchen mich zu<lb/>
er&#x017F;pähen, mich, das Würmchen im Waldfilz, und<lb/>
wehen mir einen Gruß zu &#x2014; von . . . . Nein,<lb/>
&#x017F;ie i&#x017F;t geborgen unter &#x017F;tolzem Dache von Men&#x017F;chen-<lb/>
hand; ihr Wolken habt &#x017F;ie nicht ge&#x017F;ehen, oder habt<lb/>
ihr &#x017F;ie? &#x2014; Ach, &#x017F;ie wehen von fernen Oeden<lb/>
und Meeren.</p><lb/>
          <p>Da flü&#x017F;tert es, da &#x017F;äu&#x017F;elt es; es &#x017F;prechen<lb/>
miteinander die Bäume. Es träumt der Wald.</p><lb/>
          <p>Eine &#x017F;chneeweiße, große Blüte weht heran;<lb/>
blühen die Nadelwälder denn nicht in den Bluts-<lb/>
tropfen ihrer purpurnen Zäpfchen? Woher die<lb/>
weiße Blüte? Es i&#x017F;t ein Schmetterling, der &#x017F;ich<lb/>
verirrt von &#x017F;einer &#x017F;onnigen Wie&#x017F;e und nun im<lb/>
Dunkel des Waldes ang&#x017F;tvoll gaukelt.</p><lb/>
          <p>Wer bricht aber in den verwach&#x017F;enen Kronen<lb/>
die Ae&#x017F;te entzwei, daß &#x017F;ie krachen und pra&#x017F;&#x017F;eln und<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[78/0088] Brudermörder Kain zum erſtenmale unter dem wilden Aſtgeflechte der Lärche geruht hat, bis zur Stunde, wo ein Anderer, auch ein Heimatloſer, den Wohl- duft der weichen, hellgrünen Nadeln friedlich trinkt. Dunkel iſt’s, wie in einem gothiſchen Tempel; nur der Nadelwald baut den Spitzbogenſtyl. Oben- hin ragen die hunderttauſend Thürmchen der Wipfel; dazwiſchen nieder auf den ſchattigen Grund leuchtet, wie in kleinen Täfelchen zerſchnit- ten, die tiefe Himmelsbläue. Oder es ſegeln hoch oben weiße Wölkelein hin, und ſuchen mich zu erſpähen, mich, das Würmchen im Waldfilz, und wehen mir einen Gruß zu — von . . . . Nein, ſie iſt geborgen unter ſtolzem Dache von Menſchen- hand; ihr Wolken habt ſie nicht geſehen, oder habt ihr ſie? — Ach, ſie wehen von fernen Oeden und Meeren. Da flüſtert es, da ſäuſelt es; es ſprechen miteinander die Bäume. Es träumt der Wald. Eine ſchneeweiße, große Blüte weht heran; blühen die Nadelwälder denn nicht in den Bluts- tropfen ihrer purpurnen Zäpfchen? Woher die weiße Blüte? Es iſt ein Schmetterling, der ſich verirrt von ſeiner ſonnigen Wieſe und nun im Dunkel des Waldes angſtvoll gaukelt. Wer bricht aber in den verwachſenen Kronen die Aeſte entzwei, daß ſie krachen und praſſeln und

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/rosegger_waldschulmeister_1875
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/rosegger_waldschulmeister_1875/88
Zitationshilfe: Rosegger, Peter: Die Schriften des Waldschulmeisters. Pest, 1875, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosegger_waldschulmeister_1875/88>, abgerufen am 15.05.2024.