verschnitten sind, bald das Gefühl des Zwanges und der Abge¬ zirkeltheit, aus deren Oede wir uns in die Irregularität eines Eng¬ lischen Gartens oder noch lieber des freien Waldes hinaussehnen.
Wir befinden uns hier schon in lauter dialektischen Be¬ stimmungen. Ein einfaches Aussprechen und Setzen der Bestimmungen genügt nicht; sie gehen in einander über. Als Moment kann die Regularität berechtigt und schön sein; als absolute Regel, in welche das ästhetische Object aufgeht, kann sie häßlich werden. Man kann aber nicht schließen, daß das Gegentheil der Regularität, die Irregularität, überhaupt schön sein müsse. Sie kann es sein, je nach den Verhältnissen; am unrechten Ort oder in's Verworrene ausartend wird sie eben sowohl häßlich werden. Ein schönes Beispiel reizender Irregularität auf dem architektonischen Felde ist das Schloß Meilhart im Cherdepartement, ohne alle Symmetrie in einer Art von Renaissancestyl aufgeführt (19). In Darstellung derjenigen nachlässigen Irregularität, die wir Negligee par excellence zu nennen pflegen und worin die Kammermädchen oft noch reizender erscheinen, als ihre Herrinnen, sind Maler und Dichter glücklich genug gewesen, als daß an Beispiele zu erinnern nöthig wäre. Im vorigen Jahrhundert kamen in Deutschland, in vermeintlicher Nachahmung der Hebräischen Poesie, der antiken Chöre, der Skaldenlieder und des Ossian freie rhythmische Gesänge auf, die sich in irregulärer Wildheit von der metrischen Geschlossenheit emancipirt hatten. Manches darin war vortrefflich, wie in einigen Klopstockschen Bardieten und einigen Götheschen Compositionen. Aber wie jämmerlich fiel diese Irregularität auch bei einigen Andern aus, die sich in hohlem Wortschwall nicht nur, die sich auch in ganz unrhythmischen, unmusikalischen, durcheinander¬ stolpernden Tonmassen bewegten.
verſchnitten ſind, bald das Gefühl des Zwanges und der Abge¬ zirkeltheit, aus deren Oede wir uns in die Irregularität eines Eng¬ liſchen Gartens oder noch lieber des freien Waldes hinausſehnen.
Wir befinden uns hier ſchon in lauter dialektiſchen Be¬ ſtimmungen. Ein einfaches Ausſprechen und Setzen der Beſtimmungen genügt nicht; ſie gehen in einander über. Als Moment kann die Regularität berechtigt und ſchön ſein; als abſolute Regel, in welche das äſthetiſche Object aufgeht, kann ſie häßlich werden. Man kann aber nicht ſchließen, daß das Gegentheil der Regularität, die Irregularität, überhaupt ſchön ſein müſſe. Sie kann es ſein, je nach den Verhältniſſen; am unrechten Ort oder in's Verworrene ausartend wird ſie eben ſowohl häßlich werden. Ein ſchönes Beiſpiel reizender Irregularität auf dem architektoniſchen Felde iſt das Schloß Meilhart im Cherdepartement, ohne alle Symmetrie in einer Art von Renaiſſanceſtyl aufgeführt (19). In Darſtellung derjenigen nachläſſigen Irregularität, die wir Negligée par excellence zu nennen pflegen und worin die Kammermädchen oft noch reizender erſcheinen, als ihre Herrinnen, ſind Maler und Dichter glücklich genug geweſen, als daß an Beiſpiele zu erinnern nöthig wäre. Im vorigen Jahrhundert kamen in Deutſchland, in vermeintlicher Nachahmung der Hebräiſchen Poeſie, der antiken Chöre, der Skaldenlieder und des Oſſian freie rhythmiſche Geſänge auf, die ſich in irregulärer Wildheit von der metriſchen Geſchloſſenheit emancipirt hatten. Manches darin war vortrefflich, wie in einigen Klopſtockſchen Bardieten und einigen Götheſchen Compoſitionen. Aber wie jämmerlich fiel dieſe Irregularität auch bei einigen Andern aus, die ſich in hohlem Wortſchwall nicht nur, die ſich auch in ganz unrhythmiſchen, unmuſikaliſchen, durcheinander¬ ſtolpernden Tonmaſſen bewegten.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0104"n="82"/>
verſchnitten ſind, bald das Gefühl des Zwanges und der Abge¬<lb/>
zirkeltheit, aus deren Oede wir uns in die Irregularität eines Eng¬<lb/>
liſchen Gartens oder noch lieber des freien Waldes hinausſehnen.</p><lb/><p>Wir befinden uns hier ſchon in lauter dialektiſchen Be¬<lb/>ſtimmungen. Ein einfaches Ausſprechen und Setzen der<lb/>
Beſtimmungen genügt nicht; ſie gehen in einander über. Als<lb/>
Moment kann die Regularität berechtigt und ſchön ſein; als<lb/>
abſolute Regel, in welche das äſthetiſche Object aufgeht, kann<lb/>ſie häßlich werden. Man kann aber nicht ſchließen, daß das<lb/>
Gegentheil der Regularität, die Irregularität, überhaupt ſchön<lb/>ſein müſſe. Sie kann es ſein, je nach den Verhältniſſen;<lb/>
am unrechten Ort oder in's Verworrene ausartend wird ſie<lb/>
eben ſowohl häßlich werden. Ein ſchönes Beiſpiel reizender<lb/>
Irregularität auf dem architektoniſchen Felde iſt das Schloß<lb/><hirendition="#g">Meilhart</hi> im Cherdepartement, ohne alle Symmetrie in<lb/>
einer Art von Renaiſſanceſtyl aufgeführt (19). In Darſtellung<lb/>
derjenigen nachläſſigen Irregularität, die wir Neglig<hirendition="#aq">é</hi>e <hirendition="#aq">par<lb/>
excellence</hi> zu nennen pflegen und worin die Kammermädchen<lb/>
oft noch reizender erſcheinen, als ihre Herrinnen, ſind Maler<lb/>
und Dichter glücklich genug geweſen, als daß an Beiſpiele<lb/>
zu erinnern nöthig wäre. Im vorigen Jahrhundert kamen<lb/>
in Deutſchland, in vermeintlicher Nachahmung der Hebräiſchen<lb/>
Poeſie, der antiken Chöre, der Skaldenlieder und des Oſſian<lb/>
freie rhythmiſche Geſänge auf, die ſich in irregulärer Wildheit<lb/>
von der metriſchen Geſchloſſenheit emancipirt hatten. Manches<lb/>
darin war vortrefflich, wie in einigen <hirendition="#g">Klopſto</hi>ckſchen<lb/>
Bardieten und einigen <hirendition="#g">Götheſchen</hi> Compoſitionen. Aber<lb/>
wie jämmerlich fiel dieſe Irregularität auch bei einigen Andern<lb/>
aus, die ſich in hohlem Wortſchwall nicht nur, die ſich auch<lb/>
in ganz unrhythmiſchen, unmuſikaliſchen, durcheinander¬<lb/>ſtolpernden Tonmaſſen bewegten.</p><lb/></div></div></div></body></text></TEI>
[82/0104]
verſchnitten ſind, bald das Gefühl des Zwanges und der Abge¬
zirkeltheit, aus deren Oede wir uns in die Irregularität eines Eng¬
liſchen Gartens oder noch lieber des freien Waldes hinausſehnen.
Wir befinden uns hier ſchon in lauter dialektiſchen Be¬
ſtimmungen. Ein einfaches Ausſprechen und Setzen der
Beſtimmungen genügt nicht; ſie gehen in einander über. Als
Moment kann die Regularität berechtigt und ſchön ſein; als
abſolute Regel, in welche das äſthetiſche Object aufgeht, kann
ſie häßlich werden. Man kann aber nicht ſchließen, daß das
Gegentheil der Regularität, die Irregularität, überhaupt ſchön
ſein müſſe. Sie kann es ſein, je nach den Verhältniſſen;
am unrechten Ort oder in's Verworrene ausartend wird ſie
eben ſowohl häßlich werden. Ein ſchönes Beiſpiel reizender
Irregularität auf dem architektoniſchen Felde iſt das Schloß
Meilhart im Cherdepartement, ohne alle Symmetrie in
einer Art von Renaiſſanceſtyl aufgeführt (19). In Darſtellung
derjenigen nachläſſigen Irregularität, die wir Negligée par
excellence zu nennen pflegen und worin die Kammermädchen
oft noch reizender erſcheinen, als ihre Herrinnen, ſind Maler
und Dichter glücklich genug geweſen, als daß an Beiſpiele
zu erinnern nöthig wäre. Im vorigen Jahrhundert kamen
in Deutſchland, in vermeintlicher Nachahmung der Hebräiſchen
Poeſie, der antiken Chöre, der Skaldenlieder und des Oſſian
freie rhythmiſche Geſänge auf, die ſich in irregulärer Wildheit
von der metriſchen Geſchloſſenheit emancipirt hatten. Manches
darin war vortrefflich, wie in einigen Klopſtockſchen
Bardieten und einigen Götheſchen Compoſitionen. Aber
wie jämmerlich fiel dieſe Irregularität auch bei einigen Andern
aus, die ſich in hohlem Wortſchwall nicht nur, die ſich auch
in ganz unrhythmiſchen, unmuſikaliſchen, durcheinander¬
ſtolpernden Tonmaſſen bewegten.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 82. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/104>, abgerufen am 27.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.