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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853.

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gegensetzung ist die bloße Verschiedenheit getreten. Dieser
Contrast ist nicht blos matt, er ist vergriffen.

Der Contrast wird aber als häßlicher ferner dadurch
hervorgebracht, daß die Entgegensetzung die Spannung über¬
bietet. Wir nennen diese Form der contrastirenden Seiten
Effecthascherei. Die Kunst vertrauet nicht der einfachen
Wahrheit, sondern steigert die Extreme, Sinn und Gefühl
aufzustacheln. Sie will um jeden Preis die Wirkung er¬
zwingen und darf daher dem Genießenden keine Freiheit
lassen. Er soll und muß überwältigt werden und für seine
Niederlage -- denn ein Sieg der Kunst wäre hier ein falscher
Ausdruck -- ist der Contrast ein Hauptmittel. Die Sorge
aber, daß er von einem übersättigten und abgestumpften Ge¬
schlecht übersehen oder überhört werden könnte, läßt nun da¬
rauf hinarbeiten, ihn, wie man heut zu Tage sagt, packend
zu machen. Er wird grell, schreiend. Die naturwahre
Grenze wird schwindelnd überschritten, um unsere Nerven
durch Ueberaufregung (surexcitation) unfehlbar zu spannen.
Eine solche Gestaltung der Kunst, wie sie namentlich unsere
moderne Musik entstellt, ist häßlich. Voltaire handelte in
diesem Ungeschmack, als er Shakespeare's Cäsar für die
Französische Bühne umarbeitete. Es war ihm nicht genug,
daß Brutus als Republicaner mit Cäsar, dem nach Allein¬
herrschaft strebenden Consul und Dictator contrastirte; er
machte Brutus auch zu Cäsars Sohn; er ließ beide darum
wissen; er steigerte den Mord des politischen Gegners auch
zum Vatermord und, um sein Werk zu krönen, ließ er die
Schlacht von Philippi weg, in welcher Cäsars Schatten
gegen Brutus sein welthistorisches Recht erlangt.

Der wahre Contrast, sagten wir, enthalte die Entgegen¬
setzung als die Ungleichheit des Gleichen. So ist Roth und

gegenſetzung iſt die bloße Verſchiedenheit getreten. Dieſer
Contraſt iſt nicht blos matt, er iſt vergriffen.

Der Contraſt wird aber als häßlicher ferner dadurch
hervorgebracht, daß die Entgegenſetzung die Spannung über¬
bietet. Wir nennen dieſe Form der contraſtirenden Seiten
Effecthaſcherei. Die Kunſt vertrauet nicht der einfachen
Wahrheit, ſondern ſteigert die Extreme, Sinn und Gefühl
aufzuſtacheln. Sie will um jeden Preis die Wirkung er¬
zwingen und darf daher dem Genießenden keine Freiheit
laſſen. Er ſoll und muß überwältigt werden und für ſeine
Niederlage — denn ein Sieg der Kunſt wäre hier ein falſcher
Ausdruck — iſt der Contraſt ein Hauptmittel. Die Sorge
aber, daß er von einem überſättigten und abgeſtumpften Ge¬
ſchlecht überſehen oder überhört werden könnte, läßt nun da¬
rauf hinarbeiten, ihn, wie man heut zu Tage ſagt, packend
zu machen. Er wird grell, ſchreiend. Die naturwahre
Grenze wird ſchwindelnd überſchritten, um unſere Nerven
durch Ueberaufregung (surexcitation) unfehlbar zu ſpannen.
Eine ſolche Geſtaltung der Kunſt, wie ſie namentlich unſere
moderne Muſik entſtellt, iſt häßlich. Voltaire handelte in
dieſem Ungeſchmack, als er Shakeſpeare's Cäſar für die
Franzöſiſche Bühne umarbeitete. Es war ihm nicht genug,
daß Brutus als Republicaner mit Cäſar, dem nach Allein¬
herrſchaft ſtrebenden Conſul und Dictator contraſtirte; er
machte Brutus auch zu Cäſars Sohn; er ließ beide darum
wiſſen; er ſteigerte den Mord des politiſchen Gegners auch
zum Vatermord und, um ſein Werk zu krönen, ließ er die
Schlacht von Philippi weg, in welcher Cäſars Schatten
gegen Brutus ſein welthiſtoriſches Recht erlangt.

Der wahre Contraſt, ſagten wir, enthalte die Entgegen¬
ſetzung als die Ungleichheit des Gleichen. So iſt Roth und

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[92/0114] gegenſetzung iſt die bloße Verſchiedenheit getreten. Dieſer Contraſt iſt nicht blos matt, er iſt vergriffen. Der Contraſt wird aber als häßlicher ferner dadurch hervorgebracht, daß die Entgegenſetzung die Spannung über¬ bietet. Wir nennen dieſe Form der contraſtirenden Seiten Effecthaſcherei. Die Kunſt vertrauet nicht der einfachen Wahrheit, ſondern ſteigert die Extreme, Sinn und Gefühl aufzuſtacheln. Sie will um jeden Preis die Wirkung er¬ zwingen und darf daher dem Genießenden keine Freiheit laſſen. Er ſoll und muß überwältigt werden und für ſeine Niederlage — denn ein Sieg der Kunſt wäre hier ein falſcher Ausdruck — iſt der Contraſt ein Hauptmittel. Die Sorge aber, daß er von einem überſättigten und abgeſtumpften Ge¬ ſchlecht überſehen oder überhört werden könnte, läßt nun da¬ rauf hinarbeiten, ihn, wie man heut zu Tage ſagt, packend zu machen. Er wird grell, ſchreiend. Die naturwahre Grenze wird ſchwindelnd überſchritten, um unſere Nerven durch Ueberaufregung (surexcitation) unfehlbar zu ſpannen. Eine ſolche Geſtaltung der Kunſt, wie ſie namentlich unſere moderne Muſik entſtellt, iſt häßlich. Voltaire handelte in dieſem Ungeſchmack, als er Shakeſpeare's Cäſar für die Franzöſiſche Bühne umarbeitete. Es war ihm nicht genug, daß Brutus als Republicaner mit Cäſar, dem nach Allein¬ herrſchaft ſtrebenden Conſul und Dictator contraſtirte; er machte Brutus auch zu Cäſars Sohn; er ließ beide darum wiſſen; er ſteigerte den Mord des politiſchen Gegners auch zum Vatermord und, um ſein Werk zu krönen, ließ er die Schlacht von Philippi weg, in welcher Cäſars Schatten gegen Brutus ſein welthiſtoriſches Recht erlangt. Der wahre Contraſt, ſagten wir, enthalte die Entgegen¬ ſetzung als die Ungleichheit des Gleichen. So iſt Roth und

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Zitationshilfe: Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/114>, abgerufen am 21.05.2024.