gegensetzung ist die bloße Verschiedenheit getreten. Dieser Contrast ist nicht blos matt, er ist vergriffen.
Der Contrast wird aber als häßlicher ferner dadurch hervorgebracht, daß die Entgegensetzung die Spannung über¬ bietet. Wir nennen diese Form der contrastirenden Seiten Effecthascherei. Die Kunst vertrauet nicht der einfachen Wahrheit, sondern steigert die Extreme, Sinn und Gefühl aufzustacheln. Sie will um jeden Preis die Wirkung er¬ zwingen und darf daher dem Genießenden keine Freiheit lassen. Er soll und muß überwältigt werden und für seine Niederlage -- denn ein Sieg der Kunst wäre hier ein falscher Ausdruck -- ist der Contrast ein Hauptmittel. Die Sorge aber, daß er von einem übersättigten und abgestumpften Ge¬ schlecht übersehen oder überhört werden könnte, läßt nun da¬ rauf hinarbeiten, ihn, wie man heut zu Tage sagt, packend zu machen. Er wird grell, schreiend. Die naturwahre Grenze wird schwindelnd überschritten, um unsere Nerven durch Ueberaufregung (surexcitation) unfehlbar zu spannen. Eine solche Gestaltung der Kunst, wie sie namentlich unsere moderne Musik entstellt, ist häßlich. Voltaire handelte in diesem Ungeschmack, als er Shakespeare's Cäsar für die Französische Bühne umarbeitete. Es war ihm nicht genug, daß Brutus als Republicaner mit Cäsar, dem nach Allein¬ herrschaft strebenden Consul und Dictator contrastirte; er machte Brutus auch zu Cäsars Sohn; er ließ beide darum wissen; er steigerte den Mord des politischen Gegners auch zum Vatermord und, um sein Werk zu krönen, ließ er die Schlacht von Philippi weg, in welcher Cäsars Schatten gegen Brutus sein welthistorisches Recht erlangt.
Der wahre Contrast, sagten wir, enthalte die Entgegen¬ setzung als die Ungleichheit des Gleichen. So ist Roth und
gegenſetzung iſt die bloße Verſchiedenheit getreten. Dieſer Contraſt iſt nicht blos matt, er iſt vergriffen.
Der Contraſt wird aber als häßlicher ferner dadurch hervorgebracht, daß die Entgegenſetzung die Spannung über¬ bietet. Wir nennen dieſe Form der contraſtirenden Seiten Effecthaſcherei. Die Kunſt vertrauet nicht der einfachen Wahrheit, ſondern ſteigert die Extreme, Sinn und Gefühl aufzuſtacheln. Sie will um jeden Preis die Wirkung er¬ zwingen und darf daher dem Genießenden keine Freiheit laſſen. Er ſoll und muß überwältigt werden und für ſeine Niederlage — denn ein Sieg der Kunſt wäre hier ein falſcher Ausdruck — iſt der Contraſt ein Hauptmittel. Die Sorge aber, daß er von einem überſättigten und abgeſtumpften Ge¬ ſchlecht überſehen oder überhört werden könnte, läßt nun da¬ rauf hinarbeiten, ihn, wie man heut zu Tage ſagt, packend zu machen. Er wird grell, ſchreiend. Die naturwahre Grenze wird ſchwindelnd überſchritten, um unſere Nerven durch Ueberaufregung (surexcitation) unfehlbar zu ſpannen. Eine ſolche Geſtaltung der Kunſt, wie ſie namentlich unſere moderne Muſik entſtellt, iſt häßlich. Voltaire handelte in dieſem Ungeſchmack, als er Shakeſpeare's Cäſar für die Franzöſiſche Bühne umarbeitete. Es war ihm nicht genug, daß Brutus als Republicaner mit Cäſar, dem nach Allein¬ herrſchaft ſtrebenden Conſul und Dictator contraſtirte; er machte Brutus auch zu Cäſars Sohn; er ließ beide darum wiſſen; er ſteigerte den Mord des politiſchen Gegners auch zum Vatermord und, um ſein Werk zu krönen, ließ er die Schlacht von Philippi weg, in welcher Cäſars Schatten gegen Brutus ſein welthiſtoriſches Recht erlangt.
Der wahre Contraſt, ſagten wir, enthalte die Entgegen¬ ſetzung als die Ungleichheit des Gleichen. So iſt Roth und
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0114"n="92"/>
gegenſetzung iſt die bloße Verſchiedenheit getreten. Dieſer<lb/>
Contraſt iſt nicht blos matt, er iſt vergriffen.</p><lb/><p>Der Contraſt wird aber als häßlicher ferner dadurch<lb/>
hervorgebracht, daß die Entgegenſetzung die Spannung über¬<lb/>
bietet. Wir nennen dieſe Form der contraſtirenden Seiten<lb/><hirendition="#g">Effecthaſcherei</hi>. Die Kunſt vertrauet nicht der einfachen<lb/>
Wahrheit, ſondern ſteigert die Extreme, Sinn und Gefühl<lb/>
aufzuſtacheln. Sie will um jeden Preis die Wirkung er¬<lb/>
zwingen und darf daher dem Genießenden keine Freiheit<lb/>
laſſen. Er ſoll und muß überwältigt werden und für ſeine<lb/>
Niederlage — denn ein Sieg der Kunſt wäre hier ein falſcher<lb/>
Ausdruck — iſt der Contraſt ein Hauptmittel. Die Sorge<lb/>
aber, daß er von einem überſättigten und abgeſtumpften Ge¬<lb/>ſchlecht überſehen oder überhört werden könnte, läßt nun da¬<lb/>
rauf hinarbeiten, ihn, wie man heut zu Tage ſagt, <hirendition="#g">packend</hi><lb/>
zu machen. Er wird <hirendition="#g">grell</hi>, <hirendition="#g">ſchreiend</hi>. Die naturwahre<lb/>
Grenze wird ſchwindelnd überſchritten, um unſere Nerven<lb/>
durch Ueberaufregung (<hirendition="#aq">surexcitation</hi>) unfehlbar zu ſpannen.<lb/>
Eine ſolche Geſtaltung der Kunſt, wie ſie namentlich unſere<lb/>
moderne Muſik entſtellt, iſt häßlich. <hirendition="#g">Voltaire</hi> handelte in<lb/>
dieſem Ungeſchmack, als er <hirendition="#g">Shakeſpeare's Cäſar</hi> für die<lb/>
Franzöſiſche Bühne umarbeitete. Es war ihm nicht genug,<lb/>
daß Brutus als Republicaner mit Cäſar, dem nach Allein¬<lb/>
herrſchaft ſtrebenden Conſul und Dictator contraſtirte; er<lb/>
machte Brutus auch zu Cäſars Sohn; er ließ beide darum<lb/>
wiſſen; er ſteigerte den Mord des politiſchen Gegners auch<lb/>
zum Vatermord und, um ſein Werk zu krönen, ließ er die<lb/>
Schlacht von Philippi weg, in welcher Cäſars Schatten<lb/>
gegen Brutus ſein welthiſtoriſches Recht erlangt.</p><lb/><p>Der wahre Contraſt, ſagten wir, enthalte die Entgegen¬<lb/>ſetzung als die Ungleichheit des Gleichen. So iſt Roth und<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[92/0114]
gegenſetzung iſt die bloße Verſchiedenheit getreten. Dieſer
Contraſt iſt nicht blos matt, er iſt vergriffen.
Der Contraſt wird aber als häßlicher ferner dadurch
hervorgebracht, daß die Entgegenſetzung die Spannung über¬
bietet. Wir nennen dieſe Form der contraſtirenden Seiten
Effecthaſcherei. Die Kunſt vertrauet nicht der einfachen
Wahrheit, ſondern ſteigert die Extreme, Sinn und Gefühl
aufzuſtacheln. Sie will um jeden Preis die Wirkung er¬
zwingen und darf daher dem Genießenden keine Freiheit
laſſen. Er ſoll und muß überwältigt werden und für ſeine
Niederlage — denn ein Sieg der Kunſt wäre hier ein falſcher
Ausdruck — iſt der Contraſt ein Hauptmittel. Die Sorge
aber, daß er von einem überſättigten und abgeſtumpften Ge¬
ſchlecht überſehen oder überhört werden könnte, läßt nun da¬
rauf hinarbeiten, ihn, wie man heut zu Tage ſagt, packend
zu machen. Er wird grell, ſchreiend. Die naturwahre
Grenze wird ſchwindelnd überſchritten, um unſere Nerven
durch Ueberaufregung (surexcitation) unfehlbar zu ſpannen.
Eine ſolche Geſtaltung der Kunſt, wie ſie namentlich unſere
moderne Muſik entſtellt, iſt häßlich. Voltaire handelte in
dieſem Ungeſchmack, als er Shakeſpeare's Cäſar für die
Franzöſiſche Bühne umarbeitete. Es war ihm nicht genug,
daß Brutus als Republicaner mit Cäſar, dem nach Allein¬
herrſchaft ſtrebenden Conſul und Dictator contraſtirte; er
machte Brutus auch zu Cäſars Sohn; er ließ beide darum
wiſſen; er ſteigerte den Mord des politiſchen Gegners auch
zum Vatermord und, um ſein Werk zu krönen, ließ er die
Schlacht von Philippi weg, in welcher Cäſars Schatten
gegen Brutus ſein welthiſtoriſches Recht erlangt.
Der wahre Contraſt, ſagten wir, enthalte die Entgegen¬
ſetzung als die Ungleichheit des Gleichen. So iſt Roth und
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/114>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.