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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853.

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welche die Dichter enthusiastische Verse gemacht haben. Ein
schönes, tanzendes Weib hält in der Linken eine kleine Harfe,
während es die Rechte über den Kopf hin ausstreckt. Es
steht auf den Zehen des linken Fußes; der rechte ist in
leichtem Schwunge gehoben und tippt mit der Spitze nach
hinten auf den Boden. Daß die Gestalt, nach Französischen
Begriffen der poesie fugitive, eine gewisse Fülle hat, wollen
wir zugestehen; mußte aber auch am Kopfe, der himmelwärts
gewandt Begeisterung athmen soll, die Mentalregion den
Ausdruck eines genußgesättigten Embonpoints haben? Mußten
die Augen so klein, so opiumschwer geschlossen sein? Geht
diese Physiognomie nicht zu sehr in das Phrynenhafte über?
Mußte Pradier nicht bedenken, daß seine leichte Poesie zwar
einen lasciven Zug haben, jedoch in Kinn und Auge das
Spirituelle mehr markiren mußte? Solche Bedenken entstehen
aus dem Gedanken, ob auch der Begriff der scherzenden,
witzigen, lebenslustigen, erotischen Muse in diesen Formen
correct ausgedrückt worden. Pradier, nächst Canova unter
den modernen Bildhauern wohl der, welcher den Ausdruck
der Lieblichkeit am meisten in seiner Gewalt hatte, würde
sich vielleicht damit vertheidigt haben, daß ein weniger gerun¬
detes Kinn und ein größeres Auge wiederum zu edel, zu
Apollinisch gewesen sein würden (26).

In der historisch-conventionellen Richtigkeit bleibt
die Freiheit des Geistes der wesentliche Punct, dem sich die
Rücksicht auf das Gegebene unterzuordnen hat. Ist der
psychologische Ausdruck des Gemüthes correct, ist die eigent¬
liche Substanz eines historischen Vorganges richtig gefaßt, so
kommt es auf die äußerliche Morphologie der Erscheinung
weniger an. Es wird deshalb wegen der Incorrectheit der¬
selben hier ein größerer Spielraum verstattet sein. Der ge¬

welche die Dichter enthuſiaſtiſche Verſe gemacht haben. Ein
ſchönes, tanzendes Weib hält in der Linken eine kleine Harfe,
während es die Rechte über den Kopf hin ausſtreckt. Es
ſteht auf den Zehen des linken Fußes; der rechte iſt in
leichtem Schwunge gehoben und tippt mit der Spitze nach
hinten auf den Boden. Daß die Geſtalt, nach Franzöſiſchen
Begriffen der poésie fugitive, eine gewiſſe Fülle hat, wollen
wir zugeſtehen; mußte aber auch am Kopfe, der himmelwärts
gewandt Begeiſterung athmen ſoll, die Mentalregion den
Ausdruck eines genußgeſättigten Embonpoints haben? Mußten
die Augen ſo klein, ſo opiumſchwer geſchloſſen ſein? Geht
dieſe Phyſiognomie nicht zu ſehr in das Phrynenhafte über?
Mußte Pradier nicht bedenken, daß ſeine leichte Poeſie zwar
einen lasciven Zug haben, jedoch in Kinn und Auge das
Spirituelle mehr markiren mußte? Solche Bedenken entſtehen
aus dem Gedanken, ob auch der Begriff der ſcherzenden,
witzigen, lebensluſtigen, erotiſchen Muſe in dieſen Formen
correct ausgedrückt worden. Pradier, nächſt Canova unter
den modernen Bildhauern wohl der, welcher den Ausdruck
der Lieblichkeit am meiſten in ſeiner Gewalt hatte, würde
ſich vielleicht damit vertheidigt haben, daß ein weniger gerun¬
detes Kinn und ein größeres Auge wiederum zu edel, zu
Apolliniſch geweſen ſein würden (26).

In der hiſtoriſch-conventionellen Richtigkeit bleibt
die Freiheit des Geiſtes der weſentliche Punct, dem ſich die
Rückſicht auf das Gegebene unterzuordnen hat. Iſt der
pſychologiſche Ausdruck des Gemüthes correct, iſt die eigent¬
liche Subſtanz eines hiſtoriſchen Vorganges richtig gefaßt, ſo
kommt es auf die äußerliche Morphologie der Erſcheinung
weniger an. Es wird deshalb wegen der Incorrectheit der¬
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[122/0144] welche die Dichter enthuſiaſtiſche Verſe gemacht haben. Ein ſchönes, tanzendes Weib hält in der Linken eine kleine Harfe, während es die Rechte über den Kopf hin ausſtreckt. Es ſteht auf den Zehen des linken Fußes; der rechte iſt in leichtem Schwunge gehoben und tippt mit der Spitze nach hinten auf den Boden. Daß die Geſtalt, nach Franzöſiſchen Begriffen der poésie fugitive, eine gewiſſe Fülle hat, wollen wir zugeſtehen; mußte aber auch am Kopfe, der himmelwärts gewandt Begeiſterung athmen ſoll, die Mentalregion den Ausdruck eines genußgeſättigten Embonpoints haben? Mußten die Augen ſo klein, ſo opiumſchwer geſchloſſen ſein? Geht dieſe Phyſiognomie nicht zu ſehr in das Phrynenhafte über? Mußte Pradier nicht bedenken, daß ſeine leichte Poeſie zwar einen lasciven Zug haben, jedoch in Kinn und Auge das Spirituelle mehr markiren mußte? Solche Bedenken entſtehen aus dem Gedanken, ob auch der Begriff der ſcherzenden, witzigen, lebensluſtigen, erotiſchen Muſe in dieſen Formen correct ausgedrückt worden. Pradier, nächſt Canova unter den modernen Bildhauern wohl der, welcher den Ausdruck der Lieblichkeit am meiſten in ſeiner Gewalt hatte, würde ſich vielleicht damit vertheidigt haben, daß ein weniger gerun¬ detes Kinn und ein größeres Auge wiederum zu edel, zu Apolliniſch geweſen ſein würden (26). In der hiſtoriſch-conventionellen Richtigkeit bleibt die Freiheit des Geiſtes der weſentliche Punct, dem ſich die Rückſicht auf das Gegebene unterzuordnen hat. Iſt der pſychologiſche Ausdruck des Gemüthes correct, iſt die eigent¬ liche Subſtanz eines hiſtoriſchen Vorganges richtig gefaßt, ſo kommt es auf die äußerliche Morphologie der Erſcheinung weniger an. Es wird deshalb wegen der Incorrectheit der¬ ſelben hier ein größerer Spielraum verſtattet ſein. Der ge¬

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Zitationshilfe: Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 122. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/144>, abgerufen am 27.11.2024.