Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853.

Bild:
<< vorherige Seite

positiven Normalformen sollen diese Kunstgebilde verglichen
werden?

Zunächst werden wir uns erinnern müssen, daß Natur
und Geschichte selber reich sind an phantastischen Erzeugnissen.
Wenn nur der Verstand darin wirksam sein dürfte, würden
dieselben freilich nicht vorkommen, aber Zufall und Willkür
ergehen sich in den kecksten Ausgelassenheiten; es ist buch¬
stäblich wahr, daß die empirischen Combinationen mit den
Erfindungen der subjectiven Phantasie dreist zu wetteifern
vermögen. Dem Verstande allein zufolge dürfte es schwerlich
Thiere geben, die äußerlich von Pflanzen nicht unterscheidbar
sind, wie die große Gruppe der Phytozoen. Der Verstand
allein würde jene vorsündfluthlichen Riesenconvolute wider¬
sprechender Formen nicht hervorgebracht haben. Auch in der
jetzigen organischen Epoche der Erde würde er keine fliegenden
Fische, Flügeleidechsen, fliegende Mäuse, Eidechsen mit langen,
spießlöffelförmigem Schnabel, Nagethiere mit Fischschuppen¬
schwänzen, warmblütige Säuger, die uns aus den Wogen
des Meeres heraus als Fische necken u. s. w. geduldet haben.
Die Natur, mehr als verständig, nämlich vernünftig, ist in
ihrer Freiheit auch launig und phantastisch genug, das schein¬
bar Widersprechende zu vereinen. Nur das scheinbar Wider¬
sprechende, denn im Innern des Organismus darf kein
Widerspruch sein, weil er sonst nicht lebensfähig wäre; in
der äußern Form hingegen kann er widersprechend erscheinen.
Die Phantastik der Kunst hätte also, wenn sie Stierlöwen,
Adlerstiere, Greife, Sphinxe, Centauren u. dgl. erschafft,
Analogien der Natur für sich. Nicht weniger in der Ge¬
schichte, denn die Freiheit des Geistes erzeugt in Verbindung
mit dem Zufall die ungeheuerlichsten, fabelhaftesten Phäno¬
mene, welche die Phantastik der Natur unendlich überbieten.

9 *

poſitiven Normalformen ſollen dieſe Kunſtgebilde verglichen
werden?

Zunächſt werden wir uns erinnern müſſen, daß Natur
und Geſchichte ſelber reich ſind an phantaſtiſchen Erzeugniſſen.
Wenn nur der Verſtand darin wirkſam ſein dürfte, würden
dieſelben freilich nicht vorkommen, aber Zufall und Willkür
ergehen ſich in den keckſten Ausgelaſſenheiten; es iſt buch¬
ſtäblich wahr, daß die empiriſchen Combinationen mit den
Erfindungen der ſubjectiven Phantaſie dreiſt zu wetteifern
vermögen. Dem Verſtande allein zufolge dürfte es ſchwerlich
Thiere geben, die äußerlich von Pflanzen nicht unterſcheidbar
ſind, wie die große Gruppe der Phytozoen. Der Verſtand
allein würde jene vorſündfluthlichen Rieſenconvolute wider¬
ſprechender Formen nicht hervorgebracht haben. Auch in der
jetzigen organiſchen Epoche der Erde würde er keine fliegenden
Fiſche, Flügeleidechſen, fliegende Mäuſe, Eidechſen mit langen,
ſpießlöffelförmigem Schnabel, Nagethiere mit Fiſchſchuppen¬
ſchwänzen, warmblütige Säuger, die uns aus den Wogen
des Meeres heraus als Fiſche necken u. ſ. w. geduldet haben.
Die Natur, mehr als verſtändig, nämlich vernünftig, iſt in
ihrer Freiheit auch launig und phantaſtiſch genug, das ſchein¬
bar Widerſprechende zu vereinen. Nur das ſcheinbar Wider¬
ſprechende, denn im Innern des Organismus darf kein
Widerſpruch ſein, weil er ſonſt nicht lebensfähig wäre; in
der äußern Form hingegen kann er widerſprechend erſcheinen.
Die Phantaſtik der Kunſt hätte alſo, wenn ſie Stierlöwen,
Adlerſtiere, Greife, Sphinxe, Centauren u. dgl. erſchafft,
Analogien der Natur für ſich. Nicht weniger in der Ge¬
ſchichte, denn die Freiheit des Geiſtes erzeugt in Verbindung
mit dem Zufall die ungeheuerlichſten, fabelhafteſten Phäno¬
mene, welche die Phantaſtik der Natur unendlich überbieten.

9 *
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0153" n="131"/>
po&#x017F;itiven Normalformen &#x017F;ollen die&#x017F;e Kun&#x017F;tgebilde verglichen<lb/>
werden?</p><lb/>
            <p>Zunäch&#x017F;t werden wir uns erinnern mü&#x017F;&#x017F;en, daß Natur<lb/>
und Ge&#x017F;chichte &#x017F;elber reich &#x017F;ind an phanta&#x017F;ti&#x017F;chen Erzeugni&#x017F;&#x017F;en.<lb/>
Wenn nur der Ver&#x017F;tand darin wirk&#x017F;am &#x017F;ein dürfte, würden<lb/>
die&#x017F;elben freilich nicht vorkommen, aber Zufall und Willkür<lb/>
ergehen &#x017F;ich in den keck&#x017F;ten Ausgela&#x017F;&#x017F;enheiten; es i&#x017F;t buch¬<lb/>
&#x017F;täblich wahr, daß die empiri&#x017F;chen Combinationen mit den<lb/>
Erfindungen der &#x017F;ubjectiven Phanta&#x017F;ie drei&#x017F;t zu wetteifern<lb/>
vermögen. Dem Ver&#x017F;tande allein zufolge dürfte es &#x017F;chwerlich<lb/>
Thiere geben, die äußerlich von Pflanzen nicht unter&#x017F;cheidbar<lb/>
&#x017F;ind, wie die große Gruppe der Phytozoen. Der Ver&#x017F;tand<lb/>
allein würde jene vor&#x017F;ündfluthlichen Rie&#x017F;enconvolute wider¬<lb/>
&#x017F;prechender Formen nicht hervorgebracht haben. Auch in der<lb/>
jetzigen organi&#x017F;chen Epoche der Erde würde er keine fliegenden<lb/>
Fi&#x017F;che, Flügeleidech&#x017F;en, fliegende Mäu&#x017F;e, Eidech&#x017F;en mit langen,<lb/>
&#x017F;pießlöffelförmigem Schnabel, Nagethiere mit Fi&#x017F;ch&#x017F;chuppen¬<lb/>
&#x017F;chwänzen, warmblütige Säuger, die uns aus den Wogen<lb/>
des Meeres heraus als Fi&#x017F;che necken u. &#x017F;. w. geduldet haben.<lb/>
Die Natur, mehr als ver&#x017F;tändig, nämlich vernünftig, i&#x017F;t in<lb/>
ihrer Freiheit auch launig und phanta&#x017F;ti&#x017F;ch genug, das &#x017F;chein¬<lb/>
bar Wider&#x017F;prechende zu vereinen. Nur das &#x017F;cheinbar Wider¬<lb/>
&#x017F;prechende, denn im Innern des Organismus darf kein<lb/>
Wider&#x017F;pruch &#x017F;ein, weil er &#x017F;on&#x017F;t nicht lebensfähig wäre; in<lb/>
der äußern Form hingegen kann er wider&#x017F;prechend er&#x017F;cheinen.<lb/>
Die Phanta&#x017F;tik der Kun&#x017F;t hätte al&#x017F;o, wenn &#x017F;ie Stierlöwen,<lb/>
Adler&#x017F;tiere, Greife, Sphinxe, Centauren u. dgl. er&#x017F;chafft,<lb/>
Analogien der Natur für &#x017F;ich. Nicht weniger in der Ge¬<lb/>
&#x017F;chichte, denn die Freiheit des Gei&#x017F;tes erzeugt in Verbindung<lb/>
mit dem Zufall die ungeheuerlich&#x017F;ten, fabelhafte&#x017F;ten Phäno¬<lb/>
mene, welche die Phanta&#x017F;tik der Natur unendlich überbieten.<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">9 *<lb/></fw>
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[131/0153] poſitiven Normalformen ſollen dieſe Kunſtgebilde verglichen werden? Zunächſt werden wir uns erinnern müſſen, daß Natur und Geſchichte ſelber reich ſind an phantaſtiſchen Erzeugniſſen. Wenn nur der Verſtand darin wirkſam ſein dürfte, würden dieſelben freilich nicht vorkommen, aber Zufall und Willkür ergehen ſich in den keckſten Ausgelaſſenheiten; es iſt buch¬ ſtäblich wahr, daß die empiriſchen Combinationen mit den Erfindungen der ſubjectiven Phantaſie dreiſt zu wetteifern vermögen. Dem Verſtande allein zufolge dürfte es ſchwerlich Thiere geben, die äußerlich von Pflanzen nicht unterſcheidbar ſind, wie die große Gruppe der Phytozoen. Der Verſtand allein würde jene vorſündfluthlichen Rieſenconvolute wider¬ ſprechender Formen nicht hervorgebracht haben. Auch in der jetzigen organiſchen Epoche der Erde würde er keine fliegenden Fiſche, Flügeleidechſen, fliegende Mäuſe, Eidechſen mit langen, ſpießlöffelförmigem Schnabel, Nagethiere mit Fiſchſchuppen¬ ſchwänzen, warmblütige Säuger, die uns aus den Wogen des Meeres heraus als Fiſche necken u. ſ. w. geduldet haben. Die Natur, mehr als verſtändig, nämlich vernünftig, iſt in ihrer Freiheit auch launig und phantaſtiſch genug, das ſchein¬ bar Widerſprechende zu vereinen. Nur das ſcheinbar Wider¬ ſprechende, denn im Innern des Organismus darf kein Widerſpruch ſein, weil er ſonſt nicht lebensfähig wäre; in der äußern Form hingegen kann er widerſprechend erſcheinen. Die Phantaſtik der Kunſt hätte alſo, wenn ſie Stierlöwen, Adlerſtiere, Greife, Sphinxe, Centauren u. dgl. erſchafft, Analogien der Natur für ſich. Nicht weniger in der Ge¬ ſchichte, denn die Freiheit des Geiſtes erzeugt in Verbindung mit dem Zufall die ungeheuerlichſten, fabelhafteſten Phäno¬ mene, welche die Phantaſtik der Natur unendlich überbieten. 9 *

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/153
Zitationshilfe: Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 131. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/153>, abgerufen am 21.11.2024.