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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853.

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Der Geist bringt zahllose phantastische Gestalten und Be¬
gebenheiten hervor, deren buntschillernde Existenz oft die
kühnsten Phantasmagorien der Künstler kaum zu dichten ge¬
wagt haben würden. Napoleons des Ersten Leben -- das
Leben eines Lieutenants der Artillerie, eines Generals, eines
Staatsmannes, eines Eroberers, eines Verbannten, -- welche
Phantasie hätte Kraft genug gehabt, ein solches Wunderge¬
dicht zu ersinnen? Das Leben der Goldfinder in den
Californischen und Australischen Minen, wer würde es nicht
noch vor einem Decennium für ein Mährchen erklärt haben?
Der Zug der Mormonen von Nauvoo durch die Wüste
zum Utahsee -- wer hätte, während im alten Europa Barri¬
caden gebaut wurden, gleichzeitig solche wahrhaft Alttesta¬
mentliche Poesie in dem verständigen Nordamerika erwartet?
Othello, gespielt von Ira Aldridge, einem wirklichen
Mohren, -- wie hätte Shakespeare sich dies träumen
lassen? -- Doch wir halten ein, weitere Thatsachen anzu¬
führen; Thatsachen, die unserm Jahrhundert, unserer nächsten
Gegenwart angehören; Thatsachen, die nicht durch weite Ent¬
legenheit, durch graues Alterthum, durch Ueberdichtung der
Tradition einen phantastischen Schimmer erst erhalten haben. --
Der Geist geht über die verständige Zweckmäßigkeit, über das
bloße Bedürfniß, über die kahle Nützlichkeit unbedenklich hin¬
aus, wenn es gilt, seiner Eigenthümlichkeit Raum zu schaffen.
Aber auch die reinen Contouren der Schönheit achtet er nicht,
wenn er dem Drange folgt, seine Individualität zu markiren.
Welcher Wunderlichkeit begegnen wir nicht in der Mode der
Völker? Man erinnere sich z B. jener mittelaltrigen Schnabel¬
schuhe, die in ein spitzes, schellenverziertes Horn sich empor¬
bogen. Forderte die Gestalt des Fußes eine solche Form?
Nein. Gewährte sie eine besondere Bequemlichkeit? Gewiß

Der Geiſt bringt zahlloſe phantaſtiſche Geſtalten und Be¬
gebenheiten hervor, deren buntſchillernde Exiſtenz oft die
kühnſten Phantasmagorien der Künſtler kaum zu dichten ge¬
wagt haben würden. Napoleons des Erſten Leben — das
Leben eines Lieutenants der Artillerie, eines Generals, eines
Staatsmannes, eines Eroberers, eines Verbannten, — welche
Phantaſie hätte Kraft genug gehabt, ein ſolches Wunderge¬
dicht zu erſinnen? Das Leben der Goldfinder in den
Californiſchen und Auſtraliſchen Minen, wer würde es nicht
noch vor einem Decennium für ein Mährchen erklärt haben?
Der Zug der Mormonen von Nauvoo durch die Wüſte
zum Utahſee — wer hätte, während im alten Europa Barri¬
caden gebaut wurden, gleichzeitig ſolche wahrhaft Altteſta¬
mentliche Poeſie in dem verſtändigen Nordamerika erwartet?
Othello, geſpielt von Ira Aldridge, einem wirklichen
Mohren, — wie hätte Shakeſpeare ſich dies träumen
laſſen? — Doch wir halten ein, weitere Thatſachen anzu¬
führen; Thatſachen, die unſerm Jahrhundert, unſerer nächſten
Gegenwart angehören; Thatſachen, die nicht durch weite Ent¬
legenheit, durch graues Alterthum, durch Ueberdichtung der
Tradition einen phantaſtiſchen Schimmer erſt erhalten haben. —
Der Geiſt geht über die verſtändige Zweckmäßigkeit, über das
bloße Bedürfniß, über die kahle Nützlichkeit unbedenklich hin¬
aus, wenn es gilt, ſeiner Eigenthümlichkeit Raum zu ſchaffen.
Aber auch die reinen Contouren der Schönheit achtet er nicht,
wenn er dem Drange folgt, ſeine Individualität zu markiren.
Welcher Wunderlichkeit begegnen wir nicht in der Mode der
Völker? Man erinnere ſich z B. jener mittelaltrigen Schnabel¬
ſchuhe, die in ein ſpitzes, ſchellenverziertes Horn ſich empor¬
bogen. Forderte die Geſtalt des Fußes eine ſolche Form?
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[132/0154] Der Geiſt bringt zahlloſe phantaſtiſche Geſtalten und Be¬ gebenheiten hervor, deren buntſchillernde Exiſtenz oft die kühnſten Phantasmagorien der Künſtler kaum zu dichten ge¬ wagt haben würden. Napoleons des Erſten Leben — das Leben eines Lieutenants der Artillerie, eines Generals, eines Staatsmannes, eines Eroberers, eines Verbannten, — welche Phantaſie hätte Kraft genug gehabt, ein ſolches Wunderge¬ dicht zu erſinnen? Das Leben der Goldfinder in den Californiſchen und Auſtraliſchen Minen, wer würde es nicht noch vor einem Decennium für ein Mährchen erklärt haben? Der Zug der Mormonen von Nauvoo durch die Wüſte zum Utahſee — wer hätte, während im alten Europa Barri¬ caden gebaut wurden, gleichzeitig ſolche wahrhaft Altteſta¬ mentliche Poeſie in dem verſtändigen Nordamerika erwartet? Othello, geſpielt von Ira Aldridge, einem wirklichen Mohren, — wie hätte Shakeſpeare ſich dies träumen laſſen? — Doch wir halten ein, weitere Thatſachen anzu¬ führen; Thatſachen, die unſerm Jahrhundert, unſerer nächſten Gegenwart angehören; Thatſachen, die nicht durch weite Ent¬ legenheit, durch graues Alterthum, durch Ueberdichtung der Tradition einen phantaſtiſchen Schimmer erſt erhalten haben. — Der Geiſt geht über die verſtändige Zweckmäßigkeit, über das bloße Bedürfniß, über die kahle Nützlichkeit unbedenklich hin¬ aus, wenn es gilt, ſeiner Eigenthümlichkeit Raum zu ſchaffen. Aber auch die reinen Contouren der Schönheit achtet er nicht, wenn er dem Drange folgt, ſeine Individualität zu markiren. Welcher Wunderlichkeit begegnen wir nicht in der Mode der Völker? Man erinnere ſich z B. jener mittelaltrigen Schnabel¬ ſchuhe, die in ein ſpitzes, ſchellenverziertes Horn ſich empor¬ bogen. Forderte die Geſtalt des Fußes eine ſolche Form? Nein. Gewährte ſie eine beſondere Bequemlichkeit? Gewiß

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Zitationshilfe: Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 132. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/154>, abgerufen am 21.11.2024.