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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853.

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Nämliche gilt von der Verkleinerung, die ebenfalls an der
Größe wie an dem Gegenstande ihre Grenze hat. Auch in
den einzelnen Gliedern der Gestalt wird die Plastik eine
Temperirung der natürlichen Normalität sich erlauben, allein
sie wird dabei nicht in das Abnorme überschweifen dürfen.
Sie wird einen Muskel, um ihn in besonderer Beziehung
zu accentuiren, etwas straffer anschwellen oder sanfter in
sich zusammensinken lassen, als von Natur möglich wäre,
ihm aber seine richtige Stelle und Form zu geben haben,
denn ein Verstoß gegen die anatomische Grundwahrheit
würde sich auch sofort ästhetisch rächen. Die Griechen haben
bekanntermaaßen in der Bildung des Augenknochens die ge¬
wöhnliche Formation der Natur übertrieben, allein nur
innerhalb der Plastik, um der farblosen Statue durch das
tiefer liegende Auge die Kraft der Blickhaftigkeit zu geben;
der optische Schein gleicht daher die osteologische Incorrectheit
wieder aus.

Für die Malerei liegt die specifische Energie in der
Farbe und in der Beleuchtung; die Zeichnung als das
plastische Moment tritt dagegen zurück. Die Umrisse der
Gestalten müssen allerdings richtig sein; weil jedoch die
Malerei die individuelle Gestalt in der Lebendigkeit ihrer
charakteristischen Färbung, im Wechselspiel von Licht und
Schatten und in der Maaßveränderung des perspektivischen
Scheines zu geben hat, so ist bei ihr ein Fehler gegen die
Zeichnung eher zu ertragen, als in der Plastik, die uns ihre
Gestalten als Vollgebilde darbietet, welche ihre Farbe un¬
mittelbar an sich selbst haben und ihre Beleuchtung von
Außen her empfangen. Bei der Plastik ist umgekehrt die
Farbe unwesentlich, weil es ihr auf die Gestalt als solche
ankommt; mit der Starrheit des plastischen Werkes steht

Nämliche gilt von der Verkleinerung, die ebenfalls an der
Größe wie an dem Gegenſtande ihre Grenze hat. Auch in
den einzelnen Gliedern der Geſtalt wird die Plaſtik eine
Temperirung der natürlichen Normalität ſich erlauben, allein
ſie wird dabei nicht in das Abnorme überſchweifen dürfen.
Sie wird einen Muskel, um ihn in beſonderer Beziehung
zu accentuiren, etwas ſtraffer anſchwellen oder ſanfter in
ſich zuſammenſinken laſſen, als von Natur möglich wäre,
ihm aber ſeine richtige Stelle und Form zu geben haben,
denn ein Verſtoß gegen die anatomiſche Grundwahrheit
würde ſich auch ſofort äſthetiſch rächen. Die Griechen haben
bekanntermaaßen in der Bildung des Augenknochens die ge¬
wöhnliche Formation der Natur übertrieben, allein nur
innerhalb der Plaſtik, um der farbloſen Statue durch das
tiefer liegende Auge die Kraft der Blickhaftigkeit zu geben;
der optiſche Schein gleicht daher die oſteologiſche Incorrectheit
wieder aus.

Für die Malerei liegt die ſpecifiſche Energie in der
Farbe und in der Beleuchtung; die Zeichnung als das
plaſtiſche Moment tritt dagegen zurück. Die Umriſſe der
Geſtalten müſſen allerdings richtig ſein; weil jedoch die
Malerei die individuelle Geſtalt in der Lebendigkeit ihrer
charakteriſtiſchen Färbung, im Wechſelſpiel von Licht und
Schatten und in der Maaßveränderung des perſpektiviſchen
Scheines zu geben hat, ſo iſt bei ihr ein Fehler gegen die
Zeichnung eher zu ertragen, als in der Plaſtik, die uns ihre
Geſtalten als Vollgebilde darbietet, welche ihre Farbe un¬
mittelbar an ſich ſelbſt haben und ihre Beleuchtung von
Außen her empfangen. Bei der Plaſtik iſt umgekehrt die
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[153/0175] Nämliche gilt von der Verkleinerung, die ebenfalls an der Größe wie an dem Gegenſtande ihre Grenze hat. Auch in den einzelnen Gliedern der Geſtalt wird die Plaſtik eine Temperirung der natürlichen Normalität ſich erlauben, allein ſie wird dabei nicht in das Abnorme überſchweifen dürfen. Sie wird einen Muskel, um ihn in beſonderer Beziehung zu accentuiren, etwas ſtraffer anſchwellen oder ſanfter in ſich zuſammenſinken laſſen, als von Natur möglich wäre, ihm aber ſeine richtige Stelle und Form zu geben haben, denn ein Verſtoß gegen die anatomiſche Grundwahrheit würde ſich auch ſofort äſthetiſch rächen. Die Griechen haben bekanntermaaßen in der Bildung des Augenknochens die ge¬ wöhnliche Formation der Natur übertrieben, allein nur innerhalb der Plaſtik, um der farbloſen Statue durch das tiefer liegende Auge die Kraft der Blickhaftigkeit zu geben; der optiſche Schein gleicht daher die oſteologiſche Incorrectheit wieder aus. Für die Malerei liegt die ſpecifiſche Energie in der Farbe und in der Beleuchtung; die Zeichnung als das plaſtiſche Moment tritt dagegen zurück. Die Umriſſe der Geſtalten müſſen allerdings richtig ſein; weil jedoch die Malerei die individuelle Geſtalt in der Lebendigkeit ihrer charakteriſtiſchen Färbung, im Wechſelſpiel von Licht und Schatten und in der Maaßveränderung des perſpektiviſchen Scheines zu geben hat, ſo iſt bei ihr ein Fehler gegen die Zeichnung eher zu ertragen, als in der Plaſtik, die uns ihre Geſtalten als Vollgebilde darbietet, welche ihre Farbe un¬ mittelbar an ſich ſelbſt haben und ihre Beleuchtung von Außen her empfangen. Bei der Plaſtik iſt umgekehrt die Farbe unweſentlich, weil es ihr auf die Geſtalt als ſolche ankommt; mit der Starrheit des plaſtiſchen Werkes ſteht

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Zitationshilfe: Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 153. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/175>, abgerufen am 21.11.2024.