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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853.

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die individualisirende Farbe in Widerspruch; ihre Anwendung
wird für sie ein incorrectes Verfahren, wie man bemalten
Statuen und Wachsfiguren gegenüber empfindet. In Klöstern
und auf sogenannten Stationen der Passion Christi, auf
Calvarienbergen, findet man zuweilen die Statuen durch
Anwendung von wirklichen Haaren und Kleidern der Natür¬
lichkeit noch mehr, als nur durch Uebermalung, genähert
und die Statue empfängt durch solchen Schein des unmittel¬
baren Lebens etwas Gespenstisches. Wenn man in Salz¬
burg
z. B. die Stationen des Capuzinerberges bis zu dem
guten Hirten hinaufsteigt, wie schauerlich blicken da nicht die
grellen Gestalten der Juden, der Kriegsknechte und des ge¬
marterten Christus hinter den Drathgittern aus den Felsen¬
kammern hervor.

Das Correcte ist eigentlich diejenige Schönheit, die
gelernt werden kann, die ästhetische Technik. Dies zeigt sich
vorzüglich in der Musik, denn obwohl diese Kunst die
innersten Regungen des Gemüths darstellt, so ist sie doch
gerade durch die Natur des Tones an die Regeln einer
strengen Arithmetik gebunden und kann deshalb in ihren
Incorrectheiten auf das Genaueste controlirt werden.

In der Poesie ist die Correctheit unbestimmter, weil
es in ihr mehr noch, als in den übrigen Künsten, auf die
Tiefe des geistigen Gehaltes ankommt und weil zugleich
dieser Gehalt mehr, als anderwärts, eine etwaige Incor¬
rectheit kann verzeihen lassen. Aristoteles, Horaz,
Brileau und Batteur, haben die Regeln der Poesie
und mit ihnen den Begriff des poetisch Incorrecten zu be¬
stimmen gesucht. Sprachreinigkeit, metrische Richtigkeit, rhe¬
torische Vollkommenheit und Auseinanderhalten der Gattungen
sind Forderungen, die an jedes poetische Werk gestellt werden

die individualiſirende Farbe in Widerſpruch; ihre Anwendung
wird für ſie ein incorrectes Verfahren, wie man bemalten
Statuen und Wachsfiguren gegenüber empfindet. In Klöſtern
und auf ſogenannten Stationen der Paſſion Chriſti, auf
Calvarienbergen, findet man zuweilen die Statuen durch
Anwendung von wirklichen Haaren und Kleidern der Natür¬
lichkeit noch mehr, als nur durch Uebermalung, genähert
und die Statue empfängt durch ſolchen Schein des unmittel¬
baren Lebens etwas Geſpenſtiſches. Wenn man in Salz¬
burg
z. B. die Stationen des Capuzinerberges bis zu dem
guten Hirten hinaufſteigt, wie ſchauerlich blicken da nicht die
grellen Geſtalten der Juden, der Kriegsknechte und des ge¬
marterten Chriſtus hinter den Drathgittern aus den Felſen¬
kammern hervor.

Das Correcte iſt eigentlich diejenige Schönheit, die
gelernt werden kann, die äſthetiſche Technik. Dies zeigt ſich
vorzüglich in der Muſik, denn obwohl dieſe Kunſt die
innerſten Regungen des Gemüths darſtellt, ſo iſt ſie doch
gerade durch die Natur des Tones an die Regeln einer
ſtrengen Arithmetik gebunden und kann deshalb in ihren
Incorrectheiten auf das Genaueſte controlirt werden.

In der Poeſie iſt die Correctheit unbeſtimmter, weil
es in ihr mehr noch, als in den übrigen Künſten, auf die
Tiefe des geiſtigen Gehaltes ankommt und weil zugleich
dieſer Gehalt mehr, als anderwärts, eine etwaige Incor¬
rectheit kann verzeihen laſſen. Ariſtoteles, Horaz,
Brileau und Batteur, haben die Regeln der Poeſie
und mit ihnen den Begriff des poetiſch Incorrecten zu be¬
ſtimmen geſucht. Sprachreinigkeit, metriſche Richtigkeit, rhe¬
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[154/0176] die individualiſirende Farbe in Widerſpruch; ihre Anwendung wird für ſie ein incorrectes Verfahren, wie man bemalten Statuen und Wachsfiguren gegenüber empfindet. In Klöſtern und auf ſogenannten Stationen der Paſſion Chriſti, auf Calvarienbergen, findet man zuweilen die Statuen durch Anwendung von wirklichen Haaren und Kleidern der Natür¬ lichkeit noch mehr, als nur durch Uebermalung, genähert und die Statue empfängt durch ſolchen Schein des unmittel¬ baren Lebens etwas Geſpenſtiſches. Wenn man in Salz¬ burg z. B. die Stationen des Capuzinerberges bis zu dem guten Hirten hinaufſteigt, wie ſchauerlich blicken da nicht die grellen Geſtalten der Juden, der Kriegsknechte und des ge¬ marterten Chriſtus hinter den Drathgittern aus den Felſen¬ kammern hervor. Das Correcte iſt eigentlich diejenige Schönheit, die gelernt werden kann, die äſthetiſche Technik. Dies zeigt ſich vorzüglich in der Muſik, denn obwohl dieſe Kunſt die innerſten Regungen des Gemüths darſtellt, ſo iſt ſie doch gerade durch die Natur des Tones an die Regeln einer ſtrengen Arithmetik gebunden und kann deshalb in ihren Incorrectheiten auf das Genaueſte controlirt werden. In der Poeſie iſt die Correctheit unbeſtimmter, weil es in ihr mehr noch, als in den übrigen Künſten, auf die Tiefe des geiſtigen Gehaltes ankommt und weil zugleich dieſer Gehalt mehr, als anderwärts, eine etwaige Incor¬ rectheit kann verzeihen laſſen. Ariſtoteles, Horaz, Brileau und Batteur, haben die Regeln der Poeſie und mit ihnen den Begriff des poetiſch Incorrecten zu be¬ ſtimmen geſucht. Sprachreinigkeit, metriſche Richtigkeit, rhe¬ toriſche Vollkommenheit und Auseinanderhalten der Gattungen ſind Forderungen, die an jedes poetiſche Werk geſtellt werden

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Zitationshilfe: Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 154. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/176>, abgerufen am 21.11.2024.