In diesen Fehler verfällt die Kunst, wenn sie sich so sehr in das Nebensächliche vertieft, daß sie dadurch von dem Wesent¬ lichen abgezogen wird. Sie räumt dann dem an sich Unter¬ geordneten eine Breite ein, die ihm in seinem Verhältniß zur Hauptsache nicht zusteht. In der Epik soll uns z. B. zwar auch das Local, die Kleidung, Bewaffnung u. dgl. vorgestellt werden. Geht sie jedoch über den poetischen Zweck hinaus, beschreibt sie uns, wie in neueren Romanen geschieht, Pflanzen mit wissenschaftlicher Genauigkeit, wohl gar mit Hinzufügung des Lateinischen Namens; beschreibt sie uns Kleider mit der Sorgfalt eines Modejournals, Meubel und Hausrath mit technischer Accuratesse, so wird eine solche Ausführlichkeit kleinlich und damit häßlich. Selbst bessere Schriftsteller, wie Balzac bei den Franzosen, Max Waldau bei uns in der ersten Ausgabe seiner Romannovelle: "Nach der Natur", kranken öfter an diesem kleinlichen Zuge. Eben so kann die Poesie nach der Innenseite des Geistes hin kleinlich werden, wenn sie das Gefühl zu weitläufigen Analysen unter¬ wirft und die Vermittelungen des psychologischen Pragma¬ tismus ohne objective Berechtigung in haarspaltenden Unter¬ schieden entwickelt. Eine solche Behandlung ist ganz dazu gemacht, selbst der Anlage nach große Gefühle in der Sub¬ tilität der Zergliederung wegzuschwemmen. Dies war der Fehler Richardsons in seiner Clarisse und Pamela; dies der Fehler -- man darf es ja wohl heut zu Tage sagen, ohne anathematisirt zu werden-- der Fehler Rousseau's in seiner Neuen Heloise. Es kann die Kleinlichkeit der Behandlung aber auch darin liegen, daß ein an sich großer Vorwurf von vorn herein zu klein genommen und in allen seinen Verhältnissen gegen seinen Begriff verzwergt wird. Das Kleine, wie oben schon bemerkt worden, eutopos khai
In dieſen Fehler verfällt die Kunſt, wenn ſie ſich ſo ſehr in das Nebenſächliche vertieft, daß ſie dadurch von dem Weſent¬ lichen abgezogen wird. Sie räumt dann dem an ſich Unter¬ geordneten eine Breite ein, die ihm in ſeinem Verhältniß zur Hauptſache nicht zuſteht. In der Epik ſoll uns z. B. zwar auch das Local, die Kleidung, Bewaffnung u. dgl. vorgeſtellt werden. Geht ſie jedoch über den poetiſchen Zweck hinaus, beſchreibt ſie uns, wie in neueren Romanen geſchieht, Pflanzen mit wiſſenſchaftlicher Genauigkeit, wohl gar mit Hinzufügung des Lateiniſchen Namens; beſchreibt ſie uns Kleider mit der Sorgfalt eines Modejournals, Meubel und Hausrath mit techniſcher Accurateſſe, ſo wird eine ſolche Ausführlichkeit kleinlich und damit häßlich. Selbſt beſſere Schriftſteller, wie Balzac bei den Franzoſen, Max Waldau bei uns in der erſten Ausgabe ſeiner Romannovelle: „Nach der Natur“, kranken öfter an dieſem kleinlichen Zuge. Eben ſo kann die Poeſie nach der Innenſeite des Geiſtes hin kleinlich werden, wenn ſie das Gefühl zu weitläufigen Analyſen unter¬ wirft und die Vermittelungen des pſychologiſchen Pragma¬ tismus ohne objective Berechtigung in haarſpaltenden Unter¬ ſchieden entwickelt. Eine ſolche Behandlung iſt ganz dazu gemacht, ſelbſt der Anlage nach große Gefühle in der Sub¬ tilität der Zergliederung wegzuſchwemmen. Dies war der Fehler Richardſons in ſeiner Clariſſe und Pamela; dies der Fehler — man darf es ja wohl heut zu Tage ſagen, ohne anathematiſirt zu werden— der Fehler Rouſſeau's in ſeiner Neuen Heloiſe. Es kann die Kleinlichkeit der Behandlung aber auch darin liegen, daß ein an ſich großer Vorwurf von vorn herein zu klein genommen und in allen ſeinen Verhältniſſen gegen ſeinen Begriff verzwergt wird. Das Kleine, wie oben ſchon bemerkt worden, ἐυτοπῶς χαὶ
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0206"n="184"/>
In dieſen Fehler verfällt die Kunſt, wenn ſie ſich ſo ſehr in<lb/>
das Nebenſächliche vertieft, daß ſie dadurch von dem Weſent¬<lb/>
lichen abgezogen wird. Sie räumt dann dem an ſich Unter¬<lb/>
geordneten eine Breite ein, die ihm in ſeinem Verhältniß zur<lb/>
Hauptſache nicht zuſteht. In der Epik ſoll uns z. B. zwar<lb/>
auch das Local, die Kleidung, Bewaffnung u. dgl. vorgeſtellt<lb/>
werden. Geht ſie jedoch über den poetiſchen Zweck hinaus,<lb/>
beſchreibt ſie uns, wie in neueren Romanen geſchieht,<lb/>
Pflanzen mit wiſſenſchaftlicher Genauigkeit, wohl gar mit<lb/>
Hinzufügung des Lateiniſchen Namens; beſchreibt ſie uns<lb/>
Kleider mit der Sorgfalt eines Modejournals, Meubel und<lb/>
Hausrath mit techniſcher Accurateſſe, ſo wird eine ſolche<lb/>
Ausführlichkeit kleinlich und damit häßlich. Selbſt beſſere<lb/>
Schriftſteller, wie <hirendition="#g">Balzac</hi> bei den Franzoſen, <hirendition="#g">Max Waldau</hi><lb/>
bei uns in der erſten Ausgabe ſeiner Romannovelle: „<hirendition="#g">Nach<lb/>
der Natur</hi>“, kranken öfter an dieſem kleinlichen Zuge. Eben<lb/>ſo kann die Poeſie nach der Innenſeite des Geiſtes hin kleinlich<lb/>
werden, wenn ſie das Gefühl zu weitläufigen Analyſen unter¬<lb/>
wirft und die Vermittelungen des pſychologiſchen Pragma¬<lb/>
tismus ohne objective Berechtigung in haarſpaltenden Unter¬<lb/>ſchieden entwickelt. Eine ſolche Behandlung iſt ganz dazu<lb/>
gemacht, ſelbſt der Anlage nach große Gefühle in der Sub¬<lb/>
tilität der Zergliederung wegzuſchwemmen. Dies war der<lb/>
Fehler <hirendition="#g">Richardſons</hi> in ſeiner <hirendition="#g">Clariſſe</hi> und <hirendition="#g">Pamela</hi>;<lb/>
dies der Fehler — man darf es ja wohl heut zu Tage ſagen,<lb/>
ohne anathematiſirt zu werden— der Fehler <hirendition="#g">Rouſſeau's</hi> in<lb/>ſeiner <hirendition="#g">Neuen Heloiſe</hi>. Es kann die Kleinlichkeit der<lb/>
Behandlung aber auch darin liegen, daß ein an ſich großer<lb/>
Vorwurf von vorn herein zu klein genommen und in allen<lb/>ſeinen Verhältniſſen gegen ſeinen Begriff verzwergt wird.<lb/>
Das Kleine, wie oben ſchon bemerkt worden, ἐυτοπῶςχαὶ<lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[184/0206]
In dieſen Fehler verfällt die Kunſt, wenn ſie ſich ſo ſehr in
das Nebenſächliche vertieft, daß ſie dadurch von dem Weſent¬
lichen abgezogen wird. Sie räumt dann dem an ſich Unter¬
geordneten eine Breite ein, die ihm in ſeinem Verhältniß zur
Hauptſache nicht zuſteht. In der Epik ſoll uns z. B. zwar
auch das Local, die Kleidung, Bewaffnung u. dgl. vorgeſtellt
werden. Geht ſie jedoch über den poetiſchen Zweck hinaus,
beſchreibt ſie uns, wie in neueren Romanen geſchieht,
Pflanzen mit wiſſenſchaftlicher Genauigkeit, wohl gar mit
Hinzufügung des Lateiniſchen Namens; beſchreibt ſie uns
Kleider mit der Sorgfalt eines Modejournals, Meubel und
Hausrath mit techniſcher Accurateſſe, ſo wird eine ſolche
Ausführlichkeit kleinlich und damit häßlich. Selbſt beſſere
Schriftſteller, wie Balzac bei den Franzoſen, Max Waldau
bei uns in der erſten Ausgabe ſeiner Romannovelle: „Nach
der Natur“, kranken öfter an dieſem kleinlichen Zuge. Eben
ſo kann die Poeſie nach der Innenſeite des Geiſtes hin kleinlich
werden, wenn ſie das Gefühl zu weitläufigen Analyſen unter¬
wirft und die Vermittelungen des pſychologiſchen Pragma¬
tismus ohne objective Berechtigung in haarſpaltenden Unter¬
ſchieden entwickelt. Eine ſolche Behandlung iſt ganz dazu
gemacht, ſelbſt der Anlage nach große Gefühle in der Sub¬
tilität der Zergliederung wegzuſchwemmen. Dies war der
Fehler Richardſons in ſeiner Clariſſe und Pamela;
dies der Fehler — man darf es ja wohl heut zu Tage ſagen,
ohne anathematiſirt zu werden— der Fehler Rouſſeau's in
ſeiner Neuen Heloiſe. Es kann die Kleinlichkeit der
Behandlung aber auch darin liegen, daß ein an ſich großer
Vorwurf von vorn herein zu klein genommen und in allen
ſeinen Verhältniſſen gegen ſeinen Begriff verzwergt wird.
Das Kleine, wie oben ſchon bemerkt worden, ἐυτοπῶς χαὶ
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 184. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/206>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.