die Protoplasten zu heutigen Menschen; indem aber zu all den Gewöhnlichkeiten, wie Theologie studiren, um zwölf Uhr zu Mittag essen, Französisch lernen, einen verdauenden Spazier¬ gang machen, die phantastischen Voraussetzungen des para¬ diesischen Zustandes hinzugenommen sind, worin die Thiere noch ohne Entzweiung sind und worin die Schlange spricht, so erzeugt sich ein sehr ergötzlicher Widerspruch, der dem Dichter zu sinnreichen satirischen Zügen Gelegenheit gegeben hat, unter denen nicht einer der schlechtesten ist, daß die Schlange Evchens unschuldige Phantasie mit den Erzählungen von Paris vergiftet und ihr die Sprache dieses Babels einschmeichelt.
Das Gewöhnliche kann auch dadurch ins Komische gewendet werden, daß es mit Ironie über sich selbst behan¬ delt wird. Schon vorhin ist angedeutet worden, daß, was wir ästhetisch als das Gewöhnliche vermeiden, reeller Weise sehr wichtig sein kann. Kommt nicht in ihm die Nothwen¬ digkeit, der wir alle unterthan sind, zum Vorschein? Ist dasselbe nicht das Element, in welchem der Fürst mit dem Bettler sich begegnet? Müssen wir nicht alle essen und trinken, schlafen und verdauen? Müssen wir nicht alle arbeiten, wenigstens an unserm Nichtsthun? Müssen die Kinder nicht geboren werden? Kann eine Kaiserin sich die Wehen der Geburt wegdecretiren lassen? Können wir nicht alle krank werden, trotz Reichthum und Bildung? Müssen wir alle nicht endlich sterben? Ist daher diese Alltäglichkeit nicht auch sehr ernst und ehrwürdig? Machen ihre Zustände nicht das in seiner stabilen Gleichheit epische Element der Geschichte aus? Faßt die Kunst sie von dieser Seite auf, so verschwindet an ihnen alle Gemeinheit. Und so haben in der That Sculptur, Malerei und Poesie den göttlichen
Rosenkranz, Aesthetik des Häßlichen. 14
die Protoplaſten zu heutigen Menſchen; indem aber zu all den Gewöhnlichkeiten, wie Theologie ſtudiren, um zwölf Uhr zu Mittag eſſen, Franzöſiſch lernen, einen verdauenden Spazier¬ gang machen, die phantaſtiſchen Vorausſetzungen des para¬ dieſiſchen Zuſtandes hinzugenommen ſind, worin die Thiere noch ohne Entzweiung ſind und worin die Schlange ſpricht, ſo erzeugt ſich ein ſehr ergötzlicher Widerſpruch, der dem Dichter zu ſinnreichen ſatiriſchen Zügen Gelegenheit gegeben hat, unter denen nicht einer der ſchlechteſten iſt, daß die Schlange Evchens unſchuldige Phantaſie mit den Erzählungen von Paris vergiftet und ihr die Sprache dieſes Babels einſchmeichelt.
Das Gewöhnliche kann auch dadurch ins Komiſche gewendet werden, daß es mit Ironie über ſich ſelbſt behan¬ delt wird. Schon vorhin iſt angedeutet worden, daß, was wir äſthetiſch als das Gewöhnliche vermeiden, reeller Weiſe ſehr wichtig ſein kann. Kommt nicht in ihm die Nothwen¬ digkeit, der wir alle unterthan ſind, zum Vorſchein? Iſt daſſelbe nicht das Element, in welchem der Fürſt mit dem Bettler ſich begegnet? Müſſen wir nicht alle eſſen und trinken, ſchlafen und verdauen? Müſſen wir nicht alle arbeiten, wenigſtens an unſerm Nichtsthun? Müſſen die Kinder nicht geboren werden? Kann eine Kaiſerin ſich die Wehen der Geburt wegdecretiren laſſen? Können wir nicht alle krank werden, trotz Reichthum und Bildung? Müſſen wir alle nicht endlich ſterben? Iſt daher dieſe Alltäglichkeit nicht auch ſehr ernſt und ehrwürdig? Machen ihre Zuſtände nicht das in ſeiner ſtabilen Gleichheit epiſche Element der Geſchichte aus? Faßt die Kunſt ſie von dieſer Seite auf, ſo verſchwindet an ihnen alle Gemeinheit. Und ſo haben in der That Sculptur, Malerei und Poeſie den göttlichen
Roſenkranz, Aeſthetik des Häßlichen. 14
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die Protoplaſten zu heutigen Menſchen; indem aber zu all
den Gewöhnlichkeiten, wie Theologie ſtudiren, um zwölf Uhr
zu Mittag eſſen, Franzöſiſch lernen, einen verdauenden Spazier¬
gang machen, die phantaſtiſchen Vorausſetzungen des para¬
dieſiſchen Zuſtandes hinzugenommen ſind, worin die Thiere
noch ohne Entzweiung ſind und worin die Schlange ſpricht,
ſo erzeugt ſich ein ſehr ergötzlicher Widerſpruch, der dem
Dichter zu ſinnreichen ſatiriſchen Zügen Gelegenheit gegeben
hat, unter denen nicht einer der ſchlechteſten iſt, daß die
Schlange Evchens unſchuldige Phantaſie mit den Erzählungen
von Paris vergiftet und ihr die Sprache dieſes Babels
einſchmeichelt.
Das Gewöhnliche kann auch dadurch ins Komiſche
gewendet werden, daß es mit Ironie über ſich ſelbſt behan¬
delt wird. Schon vorhin iſt angedeutet worden, daß, was
wir äſthetiſch als das Gewöhnliche vermeiden, reeller Weiſe
ſehr wichtig ſein kann. Kommt nicht in ihm die Nothwen¬
digkeit, der wir alle unterthan ſind, zum Vorſchein? Iſt
daſſelbe nicht das Element, in welchem der Fürſt mit dem
Bettler ſich begegnet? Müſſen wir nicht alle eſſen und
trinken, ſchlafen und verdauen? Müſſen wir nicht alle
arbeiten, wenigſtens an unſerm Nichtsthun? Müſſen die
Kinder nicht geboren werden? Kann eine Kaiſerin ſich die
Wehen der Geburt wegdecretiren laſſen? Können wir nicht
alle krank werden, trotz Reichthum und Bildung? Müſſen
wir alle nicht endlich ſterben? Iſt daher dieſe Alltäglichkeit
nicht auch ſehr ernſt und ehrwürdig? Machen ihre Zuſtände
nicht das in ſeiner ſtabilen Gleichheit epiſche Element der
Geſchichte aus? Faßt die Kunſt ſie von dieſer Seite auf,
ſo verſchwindet an ihnen alle Gemeinheit. Und ſo haben in
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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 209. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/231>, abgerufen am 25.11.2024.
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