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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853.

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häßlichste Häßliche ist nicht das, was aus der Natur in
Sümpfen, in verkrüppelten Bäumen, in Kröten und Mol¬
chen, in glotzenden Fischungeheuern und massiven Dickhäu¬
tern, in Ratten und Affen uns anwidert: es ist die Selbst¬
sucht, die ihren Wahnsinn in den tückischen und frivolen
Geberden, in den Furchen der Leidenschaft, in dem Scheel¬
blick des Auges und -- im Verbrechen offenbart.

Bekannt genug sind wir mit dieser Hölle. Jeder hat
an ihrer Pein seinen Antheil, In mannigfaltigster Weise
werden Gefühl, Auge und Ohr von ihr getroffen. Der zarter
Organisirte, der feiner Gebildete, hat von ihr oft unsäglich
zu leiden, denn die Rohheit und Gemeinheit, die Abform und
Ungestalt, ängstigen den edlern Sinn in tausendfachen Ver¬
larvungen. Allein eine Thatsache kann genugsam bekannt
und doch ihrer vollen Bedeutung, ihrem ganzen Umfang
nach, noch nicht gehörig erkannt sein. Dies ist mit dem
Häßlichen der Fall. Die Theorie der schönen Künste, die
Gesetzgebung des guten Geschmacks, die Wissenschaft der
Aesthetik, ist seit einem Jahrhundert von den Europäischen
Culturvölkern bis in eine große Breite hin durchgebildet
worden, allein der Begriff des Häßlichen, obwohl man ihn
überall streifte, war doch verhältnißmäßig sehr zurückgeblie¬
ben. Man wird es in der Ordnung finden, daß nunmehr
auch die Schattenseite der Lichtgestalt des Schönen eben so
ein Moment der ästhetischen Wissenschaft werde, als die
Krankheit in der Pathologie, als das Böse in der Ethik.
Nicht, wie gesagt, als wenn das Unästhetische in seinen
einzelnen Erscheinungen nicht hinreichend bekannt wäre. Wie
auch sollte dies möglich sein, da die Natur, das Leben und
die Kunst jeden Augenblick uns daran erinnern? Aber eine
vollständigere Darlegung seines Zusammenhanges und eine

häßlichſte Häßliche iſt nicht das, was aus der Natur in
Sümpfen, in verkrüppelten Bäumen, in Kröten und Mol¬
chen, in glotzenden Fiſchungeheuern und maſſiven Dickhäu¬
tern, in Ratten und Affen uns anwidert: es iſt die Selbſt¬
ſucht, die ihren Wahnſinn in den tückiſchen und frivolen
Geberden, in den Furchen der Leidenſchaft, in dem Scheel¬
blick des Auges und — im Verbrechen offenbart.

Bekannt genug ſind wir mit dieſer Hölle. Jeder hat
an ihrer Pein ſeinen Antheil, In mannigfaltigſter Weiſe
werden Gefühl, Auge und Ohr von ihr getroffen. Der zarter
Organiſirte, der feiner Gebildete, hat von ihr oft unſäglich
zu leiden, denn die Rohheit und Gemeinheit, die Abform und
Ungeſtalt, ängſtigen den edlern Sinn in tauſendfachen Ver¬
larvungen. Allein eine Thatſache kann genugſam bekannt
und doch ihrer vollen Bedeutung, ihrem ganzen Umfang
nach, noch nicht gehörig erkannt ſein. Dies iſt mit dem
Häßlichen der Fall. Die Theorie der ſchönen Künſte, die
Geſetzgebung des guten Geſchmacks, die Wiſſenſchaft der
Aeſthetik, iſt ſeit einem Jahrhundert von den Europäiſchen
Culturvölkern bis in eine große Breite hin durchgebildet
worden, allein der Begriff des Häßlichen, obwohl man ihn
überall ſtreifte, war doch verhältnißmäßig ſehr zurückgeblie¬
ben. Man wird es in der Ordnung finden, daß nunmehr
auch die Schattenſeite der Lichtgeſtalt des Schönen eben ſo
ein Moment der äſthetiſchen Wiſſenſchaft werde, als die
Krankheit in der Pathologie, als das Böſe in der Ethik.
Nicht, wie geſagt, als wenn das Unäſthetiſche in ſeinen
einzelnen Erſcheinungen nicht hinreichend bekannt wäre. Wie
auch ſollte dies möglich ſein, da die Natur, das Leben und
die Kunſt jeden Augenblick uns daran erinnern? Aber eine
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[4/0026] häßlichſte Häßliche iſt nicht das, was aus der Natur in Sümpfen, in verkrüppelten Bäumen, in Kröten und Mol¬ chen, in glotzenden Fiſchungeheuern und maſſiven Dickhäu¬ tern, in Ratten und Affen uns anwidert: es iſt die Selbſt¬ ſucht, die ihren Wahnſinn in den tückiſchen und frivolen Geberden, in den Furchen der Leidenſchaft, in dem Scheel¬ blick des Auges und — im Verbrechen offenbart. Bekannt genug ſind wir mit dieſer Hölle. Jeder hat an ihrer Pein ſeinen Antheil, In mannigfaltigſter Weiſe werden Gefühl, Auge und Ohr von ihr getroffen. Der zarter Organiſirte, der feiner Gebildete, hat von ihr oft unſäglich zu leiden, denn die Rohheit und Gemeinheit, die Abform und Ungeſtalt, ängſtigen den edlern Sinn in tauſendfachen Ver¬ larvungen. Allein eine Thatſache kann genugſam bekannt und doch ihrer vollen Bedeutung, ihrem ganzen Umfang nach, noch nicht gehörig erkannt ſein. Dies iſt mit dem Häßlichen der Fall. Die Theorie der ſchönen Künſte, die Geſetzgebung des guten Geſchmacks, die Wiſſenſchaft der Aeſthetik, iſt ſeit einem Jahrhundert von den Europäiſchen Culturvölkern bis in eine große Breite hin durchgebildet worden, allein der Begriff des Häßlichen, obwohl man ihn überall ſtreifte, war doch verhältnißmäßig ſehr zurückgeblie¬ ben. Man wird es in der Ordnung finden, daß nunmehr auch die Schattenſeite der Lichtgeſtalt des Schönen eben ſo ein Moment der äſthetiſchen Wiſſenſchaft werde, als die Krankheit in der Pathologie, als das Böſe in der Ethik. Nicht, wie geſagt, als wenn das Unäſthetiſche in ſeinen einzelnen Erſcheinungen nicht hinreichend bekannt wäre. Wie auch ſollte dies möglich ſein, da die Natur, das Leben und die Kunſt jeden Augenblick uns daran erinnern? Aber eine vollſtändigere Darlegung ſeines Zuſammenhanges und eine

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Zitationshilfe: Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/26>, abgerufen am 21.11.2024.