Tänzerin zu dem Propheten, der sie verschmähet hatte und an welchem sie nun durch seinen Tod sich rächen wollte.
Um an der Brutalität das Grasse der Erscheinung zu sänftigen, wird ein Zusammenhang des Gewaltthätigen mit der Gerechtigkeit immer die günstigste Situation bleiben, weil sie den Gedanken der bloßen Willkür und Zufälligkeit ent¬ fernt. Wir haben vorhin aufmerksam gemacht, wie die antike Kunst den schwarzen Faden der Schuld in solchen Fällen festgehalten hat. Die Bildhauer Apollonios und Tauriskos haben in der berühmten Gruppe des Farne¬ sischen Stieres, die sich jetzt zu Neapel befindet, die Dirke dargestellt, wie Amphion und Zethos sie an die Hörner eines Stieres binden, der bereits zum gliederzerschmetternden Lauf sich emporbäumt. Wie schön ist dies Weib! Aber ihre Schönheit rührt nicht die kraftvollen Jünglinge. Diese haben auch nicht etwa Freude an ihrem brutalen Werk, sondern sie üben nach antiken Begriffen eine Pflicht aus, die Rache für ihre Mutter. Sie thun dasselbe, was Apollon und Ar¬ temis, wenn sie die Kinder der Niobe tödteten. Der Mangel der sogenannten poetischen Gerechtigkeit wird daher von uns als eine unverantwortliche Brutalität empfunden werden. Die moderne Französische Tragik nach ihrem Grund¬ satz, le laid c'est le beau, hat es auch hieran nicht fehlen lassen. In einem Trauerspiel, le Roi s'omuse, hat z. B. Victor Hugo diesen Fehler gemacht. Der Majestät eines schönen und ritterlichen Königs, Franz I., hat er hier in Tri¬ boulet einen häßlichen und buckligen Narren entgegengestellt. Den König degradirt er aber zu einem wahren liederlichen Lumpen, der jeder Schürze den Hof macht und verkleidet bis in die unsaubersten Kneipen selbst den gemeinsten Schenker¬ mädchen nachläuft. Ein solcher König ist kein König, denn
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Tänzerin zu dem Propheten, der ſie verſchmähet hatte und an welchem ſie nun durch ſeinen Tod ſich rächen wollte.
Um an der Brutalität das Graſſe der Erſcheinung zu ſänftigen, wird ein Zuſammenhang des Gewaltthätigen mit der Gerechtigkeit immer die günſtigſte Situation bleiben, weil ſie den Gedanken der bloßen Willkür und Zufälligkeit ent¬ fernt. Wir haben vorhin aufmerkſam gemacht, wie die antike Kunſt den ſchwarzen Faden der Schuld in ſolchen Fällen feſtgehalten hat. Die Bildhauer Apollonios und Tauriskos haben in der berühmten Gruppe des Farne¬ ſiſchen Stieres, die ſich jetzt zu Neapel befindet, die Dirke dargeſtellt, wie Amphion und Zethos ſie an die Hörner eines Stieres binden, der bereits zum gliederzerſchmetternden Lauf ſich emporbäumt. Wie ſchön iſt dies Weib! Aber ihre Schönheit rührt nicht die kraftvollen Jünglinge. Dieſe haben auch nicht etwa Freude an ihrem brutalen Werk, ſondern ſie üben nach antiken Begriffen eine Pflicht aus, die Rache für ihre Mutter. Sie thun daſſelbe, was Apollon und Ar¬ temis, wenn ſie die Kinder der Niobe tödteten. Der Mangel der ſogenannten poetiſchen Gerechtigkeit wird daher von uns als eine unverantwortliche Brutalität empfunden werden. Die moderne Franzöſiſche Tragik nach ihrem Grund¬ ſatz, le laid c'est le beau, hat es auch hieran nicht fehlen laſſen. In einem Trauerſpiel, le Roi s'omuse, hat z. B. Victor Hugo dieſen Fehler gemacht. Der Majeſtät eines ſchönen und ritterlichen Königs, Franz I., hat er hier in Tri¬ boulet einen häßlichen und buckligen Narren entgegengeſtellt. Den König degradirt er aber zu einem wahren liederlichen Lumpen, der jeder Schürze den Hof macht und verkleidet bis in die unſauberſten Kneipen ſelbſt den gemeinſten Schenker¬ mädchen nachläuft. Ein ſolcher König iſt kein König, denn
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Tänzerin zu dem Propheten, der ſie verſchmähet hatte und
an welchem ſie nun durch ſeinen Tod ſich rächen wollte.
Um an der Brutalität das Graſſe der Erſcheinung zu
ſänftigen, wird ein Zuſammenhang des Gewaltthätigen mit
der Gerechtigkeit immer die günſtigſte Situation bleiben, weil
ſie den Gedanken der bloßen Willkür und Zufälligkeit ent¬
fernt. Wir haben vorhin aufmerkſam gemacht, wie die
antike Kunſt den ſchwarzen Faden der Schuld in ſolchen
Fällen feſtgehalten hat. Die Bildhauer Apollonios und
Tauriskos haben in der berühmten Gruppe des Farne¬
ſiſchen Stieres, die ſich jetzt zu Neapel befindet, die
Dirke dargeſtellt, wie Amphion und Zethos ſie an die Hörner
eines Stieres binden, der bereits zum gliederzerſchmetternden
Lauf ſich emporbäumt. Wie ſchön iſt dies Weib! Aber ihre
Schönheit rührt nicht die kraftvollen Jünglinge. Dieſe haben
auch nicht etwa Freude an ihrem brutalen Werk, ſondern
ſie üben nach antiken Begriffen eine Pflicht aus, die Rache
für ihre Mutter. Sie thun daſſelbe, was Apollon und Ar¬
temis, wenn ſie die Kinder der Niobe tödteten. Der Mangel
der ſogenannten poetiſchen Gerechtigkeit wird daher
von uns als eine unverantwortliche Brutalität empfunden
werden. Die moderne Franzöſiſche Tragik nach ihrem Grund¬
ſatz, le laid c'est le beau, hat es auch hieran nicht fehlen
laſſen. In einem Trauerſpiel, le Roi s'omuse, hat z. B.
Victor Hugo dieſen Fehler gemacht. Der Majeſtät eines
ſchönen und ritterlichen Königs, Franz I., hat er hier in Tri¬
boulet einen häßlichen und buckligen Narren entgegengeſtellt.
Den König degradirt er aber zu einem wahren liederlichen
Lumpen, der jeder Schürze den Hof macht und verkleidet
bis in die unſauberſten Kneipen ſelbſt den gemeinſten Schenker¬
mädchen nachläuft. Ein ſolcher König iſt kein König, denn
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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 259. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/281>, abgerufen am 21.11.2024.
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