Mund und durchzuckt die Augenlieder. In diesem Spiel des Lebens wird die zierliche Gestalt reizend. Nehmen wir dasselbe fort, so würde die todte Gestalt auch noch zierlich sein, denn es hätte sich ja zunächst an den Proportionen derselben nichts geändert, allein reizend würden wir sie nicht mehr zu nennen vermögen. Decamps hat ein junges schönes Mädchen gemalt, das als Leiche, von einem dünnen Schleier überdeckt, durch welche ihre edlen Züge durch¬ schimmern, auf einem Gestell in einer leeren Dachkammer liegt. Niemand wird hier von Reiz sprechen, denn der Reiz wohnt nur im Lebendigen. Oder nehmen wir an, daß die Gestalt unschön wäre, so würden wir sie auch nicht reizend finden. Ein altes Weib, eine anus libidinosa, wie Horaz sagt, athmet auch im Schlaf, läßt auch den welken Busen auf und absinken u. s. w., aber wird uns nur um so häßlicher erscheinen. Das Reizende fordert aber auch die Zierlichkeit der Gestalt, denn stellen wir uns eine erhabene Schöne vor, so wird die Kraft ihrer Glieder und die Strenge ihrer Formen eher etwas Ablehnendes, als zum Genuß Ein¬ ladendes haben, was die Alten in dem Mythus ausdrückten, daß Here, dem Zeus Liebreiz zu erwecken, sich erst von der Aphrodite den Anmuthstrahlenden Gürtel leihen mußte.
Dem Reizenden entgegengesetzt ist das Scheußliche als die Ungestalt, die in ihrer häßlichen Bewegung nur immer neue Mißformen, Mißtöne und Mißworte hervorbringt. Das Scheußliche hält uns nicht, wie das Erhabene, in ehr¬ fürchtiger Ferne, sondern stößt uns von sich ab; es zieht uns nicht, wie das Gefällige, lockend zu sich heran, sondern macht uns vor sich schaudern. Es befriedigt uns nicht, wie das vollkommen Schöne, durch absolute Versöhnung in dem Innersten unseres Wesens, sondern wühlt vielmehr aus den
Mund und durchzuckt die Augenlieder. In dieſem Spiel des Lebens wird die zierliche Geſtalt reizend. Nehmen wir daſſelbe fort, ſo würde die todte Geſtalt auch noch zierlich ſein, denn es hätte ſich ja zunächſt an den Proportionen derſelben nichts geändert, allein reizend würden wir ſie nicht mehr zu nennen vermögen. Décamps hat ein junges ſchönes Mädchen gemalt, das als Leiche, von einem dünnen Schleier überdeckt, durch welche ihre edlen Züge durch¬ ſchimmern, auf einem Geſtell in einer leeren Dachkammer liegt. Niemand wird hier von Reiz ſprechen, denn der Reiz wohnt nur im Lebendigen. Oder nehmen wir an, daß die Geſtalt unſchön wäre, ſo würden wir ſie auch nicht reizend finden. Ein altes Weib, eine anus libidinosa, wie Horaz ſagt, athmet auch im Schlaf, läßt auch den welken Buſen auf und abſinken u. ſ. w., aber wird uns nur um ſo häßlicher erſcheinen. Das Reizende fordert aber auch die Zierlichkeit der Geſtalt, denn ſtellen wir uns eine erhabene Schöne vor, ſo wird die Kraft ihrer Glieder und die Strenge ihrer Formen eher etwas Ablehnendes, als zum Genuß Ein¬ ladendes haben, was die Alten in dem Mythus ausdrückten, daß Here, dem Zeus Liebreiz zu erwecken, ſich erſt von der Aphrodite den Anmuthſtrahlenden Gürtel leihen mußte.
Dem Reizenden entgegengeſetzt iſt das Scheußliche als die Ungeſtalt, die in ihrer häßlichen Bewegung nur immer neue Mißformen, Mißtöne und Mißworte hervorbringt. Das Scheußliche hält uns nicht, wie das Erhabene, in ehr¬ fürchtiger Ferne, ſondern ſtößt uns von ſich ab; es zieht uns nicht, wie das Gefällige, lockend zu ſich heran, ſondern macht uns vor ſich ſchaudern. Es befriedigt uns nicht, wie das vollkommen Schöne, durch abſolute Verſöhnung in dem Innerſten unſeres Weſens, ſondern wühlt vielmehr aus den
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0321"n="299"/>
Mund und durchzuckt die Augenlieder. In dieſem Spiel des<lb/>
Lebens wird die zierliche Geſtalt reizend. Nehmen wir<lb/>
daſſelbe fort, ſo würde die todte Geſtalt auch noch zierlich<lb/>ſein, denn es hätte ſich ja zunächſt an den Proportionen<lb/>
derſelben nichts geändert, allein reizend würden wir ſie nicht<lb/>
mehr zu nennen vermögen. <hirendition="#g">D</hi><hirendition="#aq #g">é</hi><hirendition="#g">camps</hi> hat ein junges<lb/>ſchönes Mädchen gemalt, das als Leiche, von einem dünnen<lb/>
Schleier überdeckt, durch welche ihre edlen Züge durch¬<lb/>ſchimmern, auf einem Geſtell in einer leeren Dachkammer<lb/>
liegt. Niemand wird hier von Reiz ſprechen, denn der<lb/>
Reiz wohnt nur im Lebendigen. Oder nehmen wir an, daß<lb/>
die Geſtalt unſchön wäre, ſo würden wir ſie auch nicht<lb/>
reizend finden. Ein altes Weib, eine <hirendition="#aq">anus libidinosa,</hi> wie<lb/>
Horaz ſagt, athmet auch im Schlaf, läßt auch den welken<lb/>
Buſen auf und abſinken u. ſ. w., aber wird uns nur um<lb/>ſo häßlicher erſcheinen. Das Reizende fordert aber auch die<lb/>
Zierlichkeit der Geſtalt, denn ſtellen wir uns eine erhabene<lb/>
Schöne vor, ſo wird die Kraft ihrer Glieder und die Strenge<lb/>
ihrer Formen eher etwas Ablehnendes, als zum Genuß Ein¬<lb/>
ladendes haben, was die Alten in dem Mythus ausdrückten,<lb/>
daß Here, dem Zeus Liebreiz zu erwecken, ſich erſt von der<lb/>
Aphrodite den Anmuthſtrahlenden Gürtel leihen mußte.</p><lb/><p>Dem Reizenden entgegengeſetzt iſt das Scheußliche als<lb/>
die Ungeſtalt, die in ihrer häßlichen Bewegung nur immer<lb/>
neue Mißformen, Mißtöne und Mißworte hervorbringt.<lb/>
Das Scheußliche hält uns nicht, wie das Erhabene, in ehr¬<lb/>
fürchtiger Ferne, ſondern ſtößt uns von ſich ab; es zieht<lb/>
uns nicht, wie das Gefällige, lockend zu ſich heran, ſondern<lb/>
macht uns vor ſich ſchaudern. Es befriedigt uns nicht, wie<lb/>
das vollkommen Schöne, durch abſolute Verſöhnung in dem<lb/>
Innerſten unſeres Weſens, ſondern wühlt vielmehr aus den<lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[299/0321]
Mund und durchzuckt die Augenlieder. In dieſem Spiel des
Lebens wird die zierliche Geſtalt reizend. Nehmen wir
daſſelbe fort, ſo würde die todte Geſtalt auch noch zierlich
ſein, denn es hätte ſich ja zunächſt an den Proportionen
derſelben nichts geändert, allein reizend würden wir ſie nicht
mehr zu nennen vermögen. D é camps hat ein junges
ſchönes Mädchen gemalt, das als Leiche, von einem dünnen
Schleier überdeckt, durch welche ihre edlen Züge durch¬
ſchimmern, auf einem Geſtell in einer leeren Dachkammer
liegt. Niemand wird hier von Reiz ſprechen, denn der
Reiz wohnt nur im Lebendigen. Oder nehmen wir an, daß
die Geſtalt unſchön wäre, ſo würden wir ſie auch nicht
reizend finden. Ein altes Weib, eine anus libidinosa, wie
Horaz ſagt, athmet auch im Schlaf, läßt auch den welken
Buſen auf und abſinken u. ſ. w., aber wird uns nur um
ſo häßlicher erſcheinen. Das Reizende fordert aber auch die
Zierlichkeit der Geſtalt, denn ſtellen wir uns eine erhabene
Schöne vor, ſo wird die Kraft ihrer Glieder und die Strenge
ihrer Formen eher etwas Ablehnendes, als zum Genuß Ein¬
ladendes haben, was die Alten in dem Mythus ausdrückten,
daß Here, dem Zeus Liebreiz zu erwecken, ſich erſt von der
Aphrodite den Anmuthſtrahlenden Gürtel leihen mußte.
Dem Reizenden entgegengeſetzt iſt das Scheußliche als
die Ungeſtalt, die in ihrer häßlichen Bewegung nur immer
neue Mißformen, Mißtöne und Mißworte hervorbringt.
Das Scheußliche hält uns nicht, wie das Erhabene, in ehr¬
fürchtiger Ferne, ſondern ſtößt uns von ſich ab; es zieht
uns nicht, wie das Gefällige, lockend zu ſich heran, ſondern
macht uns vor ſich ſchaudern. Es befriedigt uns nicht, wie
das vollkommen Schöne, durch abſolute Verſöhnung in dem
Innerſten unſeres Weſens, ſondern wühlt vielmehr aus den
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 299. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/321>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.